Titelschrift

Küstermann


Klasse 10

Material und Aufgaben der vierzehnten Woche:
Psalm von Paul Celan


Niemand knetet uns

Niemand knetet uns

Wer ist dieser Niemand, der uns knetet?

Niemand knetet uns wieder

Wieder? Nach was für einem Geschehen? Wie oft werden wir geknetet?

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm

"Von Erde bist du genommen zu Erde sollst du werden." (Zitat 1)

Aufgabe 1: Woher stammt dieses Zitat? Recherchiere!

"Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staub." (Zitat 2)

Aufgabe 2: Woher stammt dieses Zitat? Recherchiere!

Hart aber friedlich sind beide Zitate und die Beziehung zur Erde gilt gleichermaßen für alle Menschen, für alle Erdlinge. Aber Paul Celan ist nicht einfach nur Mensch. Er ist Jude. Er gehört zum erwählten Volk. Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache. Wir sind beim versprochenen zweiten Gedicht von Paul Celan. Als Jude spricht er in deutscher Sprache noch von einem anderen, besonderen Staub, nicht nur dem allgemein menschlichen.

Sonderkommando Auschwitz-Birkenau, Sommer 1944, heimliche Aufnahme

Heimlich aufgenommenes Foto - wahrscheinlich von einem jüdisch-griechischen Häftling des Sonderkommandos. Auschwitz-Birkenau 1944, Verbrennen von Leichen.

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm
niemand bespricht unsern Staub.

Aufgabe 3: Welchen Staub könnte er meinen?

Niemand bespricht unsern Staub

"Besprechen" ist hier nicht ein Palaver, nicht ein Kommunikationsakt diesseitiger Geschäftigkeit. Es sind nicht Lebende, die miteinander etwas besprechen. Sondern dieses Besprechen ist ein Beschwören, eine atemlose Magie, ein Versuch der Wiedererweckung von den Toten, ein Sprechen in den Staub, in den Tod, in das Nichts. Die Krematorien in Auschwitz und in den anderen Vernichtungsanlagen produzierten eine Asche, einen Staub, mit dem weder die Juden noch wir Deutsche jemals fertig sein werden. Das ist unsere Besprechung von zwei Seiten, von jüdischer Seite und von deutscher Seite. Und die Toten sprechen mit. Von jüdischer Seite spricht Paul Celan von deutscher Seite sprecht Ihr. Vielleicht sprecht Ihr schweigend. Nur Eure Gefühle sprechen, nur Eure Seele spricht mit.

Aufgabe 4: Höre!
Psalm-von-Paul-Celan.mp3
Text von Paul Celan 1961, © Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH

Aufgabe 5: Höre nochmal und schreibe den Text!

Wie gefährlich und wie gefährdet ist die Kultur, in der wir leben?

Wir leben, denken und sprechen in einer Kultur, die sich schon einmal zur Bestie verwandelte. Wie sicher sind wir, dass es nicht wieder passiert? Wie naiv sind die Sicheren. Eine Kultur, die sich nicht erinnert, wiederholt ihre Fehler. Wer die Vergangenheit verdrängt, drängt sie zur Wiederkehr. Die verbrannten Körper der Juden sind mitten in der deutschen Kultur und dürfen nicht weggewaschen werden. Dieser Staub spricht mit, in jedem Wort, das in deutscher Sprache gesprochen wird. Alle, die in deutscher Sprache sprechen, besprechen auch diesen Staub. Gott sei Dank hat Paul Celan in deutscher Sprache gedichtet. Wäre es nur die Sprache der Nazis, müssten wir uns vor ihr ekeln. Wer spricht mit uns?

Die ersten drei Zeilen des Gedichts lauten:

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Hilft Magie gegen das Böse?

Die Legende vom Golem reicht viel weiter zurück, mindestens bis zu einem Kommentar zum "Sefer Jetzira", das von Abraham geschrieben sein soll, der die Weisheit von Melchisedek empfangen habe, aber die bekannteste Version der Legende nennt den Prager Rabbi Judah Löw (1525–1609) als Erschaffer des Golem.

Was unterscheidet das Leben vom Tod? Unser Körper besteht aus Erde, aus Lehm, aus Staub. Und doch erhebt sich der Mensch, der Erdling vom Boden, geht umher und schafft und redet und tut seltsame Dinge. Sein Atem unterscheidet den lebenden Menschen vom toten, die Wärme seines Körpers von der erkalteten Leiche, der strömende Puls von der vertrockneten Mumie. Es ist also gar nicht so viel, was die lebenden Erdlinge unterscheidet von den toten. Die Biologen können nicht einmal sicher definieren, was das Leben ist. Und doch legen wir allergrößten Wert auf dieses schwer definierbare etwas.

Das Wort Golem bedeutet einen ungeformten Klumpen Erde. Einfach nur Staub zusammengeknetet, nicht viel mehr, das ist ein Golem. Damit er zum Leben erwacht, müssten Wasser, Feuer und Luft dazu. Rabbi Löw maß sich selbst die Eigenschaften des Windes bei, sein Schwiegersohn sei das Feuer, und des Rabbis Schüler hätte die Eigenschaften des Wassers. So wollten die drei mit vereinten Kräften den losen Staub verbinden zu einem lebendigen Wesen. Sieben Tage lang bereiteten sie sich gewissenhaft im Gebet vor auf das Werk. Um vier Uhr morgens, es soll am 20. Adar des Jahres 5340 gewesen sein, das wäre nach christlichem Kalender der 17. März 1580, gingen die drei Männer zu einer Lehmgrube an der Moldau außerhalb der altehrwürdigen, mysteriösen und manchmal auch unheimlichen Stadt Prag. Die drei gelehrten Juden nahmen vom Lehm und bildeten daraus die Gestalt, drei Ellen hoch und verliehen ihr menschliche Züge. Dann befahl Rabbi Löw seinem Schwiegersohn, siebenmal um den Golem herumzugehen und hierbei die Formel zu sagen, die der Rabbi ihm vorgab. Hierauf wurde der Tonklumpen warm, wurde heiß, fing an zu glühen, als sei er voll Feuer. Danach umkreiste der Schüler den Golem siebenmal: Der Golem wurde feucht und dampfte, Nässe quoll hervor und es wuchsen ihm Haare und Fingernägel. Als letzter schritt der Rabbi selber siebenmal um den Golem herum. Schließlich stellten sich die drei Beteiligten zu Füßen des Golems auf und sprachen gemeinsam den Satz aus der Schöpfungsgeschichte: „So machte Gott der Herr den Erdling aus Staub und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase, und so wurde der Erdling ein Wesen des Lebens.“ Da fing der Lehmklumpen an zu atmen, es öffneten sich die Augen des Golem. Rabbi Löw sprach zu ihm und er hörte. Löw befahl ihm sich zu erheben, da erhob sich der Golem und sie hüllten ihn ein in den mitgeführten Stoff.

Arcimboldo

Giuseppe Arcimboldo, Elementarwesen

In einer anderen Version der Legende vom Golem heißt es, auf dem Kopf des Klumpens sei ein Siegel mit drei Buchstaben gewesen: Wahrheit aus den Buchstaben Aleph-Mem-Taw Die drei Buchstaben bilden das hebräische Wort Wahrheit. Mit diesem Wort lebte der Golem. Morgens nahm der Rabbi den ersten Buchstaben, das Aleph weg, dann lag der Golem als toter Klumpen da. Wenn das Aleph fehlt, bedeuten die beiden restlichen Buchstaben den Tod. Abends tat der Rabbi wieder das Aleph dazu. Aus Tod wurde Wahrheit und der Golem stand auf und ging des Nachts als starker Wächter durch die Straßen des Gettos in Prag und beschützte die jüdische Gemeinde.

Wie verstehen wir solche Legenden?

Welche Phantasien von mächtigem Schutz stehen hinter dieser Legende von Golem-Magie? Und wieviel erfahrene Schutzlosigkeit, wieviel Sehnsucht nach Auferweckung der Toten stehen in Paul Celans Zeilen? In den guten Zeiten der Menschheitsgeschichte waren Worte, Musik und Kultur so stark, dass Fäuste sich lösten und Waffen schwiegen. Wie lassen sich Worte so mächtig sprechen, wie kann Bildung so stark sein, Kultur so verbreitet, dass sie das Böse besiegen?
Der menschliche Leib ist Erde von der Erde genommen und wird wieder zu Erde werden. Heilig ist das Leben, wir sprechen, wir denken, wir fühlen. Wie gefährdet ist der Geist, wie zerbrechlich die Güte zwischen den Menschen, wie verletzlich ihre Kultur. Dünn ist die Grenze zum Tod. Eine paar irrelaufende Gewalttäter haben die Macht, den tausendfach überlegenen Geist zu zerstören.
Für den ersten Buchstaben, Aleph, gibt es keine deutsche Entsprechung. Vergleiche die beiden Worte "See" und "beenden". In beiden steht ein doppeltes "E", das sieht geschrieben beidesmal gleich aus. Sprich beide Worte aus und höre den Unterschied. Bei "beenden" steht - unsichtbar für deutsche Buchstaben - ein Aleph zwischen den beiden e's. Aleph ist fast nichts, es ist (nur) der Ansatz für eine neue Silbe, ein Neuanfang. Der Traum von Magie ist ein Traum von der Macht des Geistes über die Materie. Die Gefahr der Magie heißt: Mein Wille geschehe! Wie heißt das Gebet jenseits der Magie?

Der Golem steht hinter dem Gedicht von Paul Celan

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Aufgabe 6: Interpretiere die ersten drei Zeilen von Celans Gedicht! Welche Wünsche, welche Hoffungen, welche Verzweiflungen spricht es aus?

Glaube nach Auschwitz

Wenn Gott sein erwähltes Volk so behandelt, wie soll dann eine*r aus den anderen Völkern zu ihm beten? Wenn er sein Volk so in der Hilflosigkeit lässt, welche Hilfe meinen dann wir, wir aus den anderen Völkern der Erde, von ihm erbitten zu können? Wenn der Gott Israels seine Erwählten so dahin gibt in das große Leiden der Shoa, was können dann wir von ihm erwarten, indem wir mit unseren kleinen Leiden zu ihm kommen? Wie könnte nach Auschwitz noch zu Gott gebetet und von Gott geredet werden? Gott ist tot, schrieb die Theologin Dorothea Sölle, als ihr bewusst wurde, was da geschah.

Der Gott zu dem wir Christen beten ist der Gott Israels. Wir Christen sind mitbetroffen vom Schrecken Isaaks. Dass Gott dem Abraham Kinder erwecken kann aus den Steinen, macht diese erweckten Steine zu Geschwistern der anderen Kinder Abrahams.

Wer am christlichen Abendmahl teilnimmt, identifiziert sich mit dem Lamm Gottes. Christus identifiziert sich als Passah-Lamm für die Völker und nimmt uns hinein in das Passah der Juden. Unser christlicher Glaube hängt am Juden Jesus. Wer meint sich vom Leiden der Juden distanzieren zu können, merkt verblendeterweise nicht, dass dies Distanzierung von Christus ist. Ein Versuch die Juden auszurotten ist zugleich auch ein Versuch den christlichen Glauben auszurotten. Das Heil kommt von den Juden. Gott ist mit seinem erwählten Volk einen weiten Weg durch die Geschichte gegangen und geht diesen Weg weiter. Wo Gott der Ewige mit Menschen durch die Geschichte geht, bekommt diese Geschichte Bedeutung von der Ewigkeit. Das Volk Israel ist der Pflug mit dem der Allmächtige die Völker der Erde beackert. Das Lied des Lammes ist die Antwort auf das Lied des Mose.

Christen

Gott ist tot, sagte Dorothea Sölle erschrocken nach Auschwitz. Es gibt auf der einen Seite fromme Christen, die vorschnell ihr widersprechen. Sie meinen, ihren christlichen Glauben heraus halten zu können, aus dem was den Juden geschah. Sie wehren ab, als ginge es um eine theoretische Aussage. Es geht aber um das unsägliche Entsetzen. Sie meinen, Dorothea Sölle sage Worte im Widerspruch zur Bibel und zu den christlichen Glaubensbekenntnissen und damit sei sie im Irrtum. Haben diese frommen Christen ihren eigenen Glauben zusammengebracht mit dem Leiden der Juden? Haben sie ihre christliche Glaubenskultur überprüft auf die Mitschuld am Massenmord? Haben sie die antijudaistischen Teile ihrer Traditionen erkannt und durchgearbeitet? Das Lied des Mose und das Lied des Lammes geht anders als die heidnischen Gesänge an einen eigenen, persönlichen Schutzgott und an Familien-, Stammes- und Nationalgottheiten.

Atheisten

Es gibt auf der anderen Seite Atheisten, die der Gott-ist-tot-Theologie vorschnell zustimmen, natürlich ohne sie verstanden zu haben. Mit zynischer Lust benutzen solche Atheismen das Leiden anderer Menschen, auch das Leiden der Juden, als Argumente für ihre Ideologie. Ohne Mitgefühl, ohne Mitleiden, ohne wirksame Hilfe, machen sie aus dem Erlebten und Erlittenen ihrer Mitmenschen das tote Material für ihre ideologischen Verschanzungen.

Niemand ist größer als die Logik

Solche Argumentationen sind pure Logeleien, mechanische Wortspiele, ohne Leben. Hütet Euch vor purer Logik, besonders vor dem Überlegenheitsgefühl, in das sie ihre Anhängerschaft hüllt. Diese Hülle hält nicht zusammen und führt nicht zum Leben. Überlegenheitsgefühle sind eine falsche Sicherheit und die Logik ist eine zynische Göttin. Sie bringt manchmal kleine Fortschritte, aber im Großen und Ganzen den Tod. Sie hebt ab auf eine einfache Entscheidung: Es gibt oder es gibt nicht. Wer so simpel auf die Logik sein Vetrauen setzt, verliert logischerweise den Zusammenhang mit dem Leiden und mit dem Leben, verliert vor allem den Zugang zu Niemand. Denn Niemand ist größer als Logik und Überlegenheitsgefühle sind nur Verführung.

Das Gedicht geht weiter.

Der Psalm für Niemand ist noch lange nicht zuende, aber Ihr seid bestimmt schon lange überfordert von soviel Mystik. Deshalb nur als Vorschau die folgenden Zeilen:

Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.

Paul Celan 1961





Die Urheberrechte für Paul Celans Gedicht liegen beim S. Fischer Verlag. Die interpretierenden Texte drumrum sind verfügbar unter der Lizenz cc-by-sa 3.0 de, das heißt: Namensnennung (= RoteSchnur.de) und Weitergabe unter gleichen Bedingungen.


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