Am Sonntagabend waren viele Menschen auf der Straße in Berlin-Dahlem. Es hätten große Fürbittengottesdienste werden sollen mit vierhundert Pastoren der Bekennenden Kirche. Viele Anhänger der Bekennenden Kirche waren von weither angereist. Das Verbot der Veranstaltung war von der Gestapo so spät herausgekommen, dass die Gemeinden und Pfarrer erst auf dem Weg zu den Kirchen davon erfuhren. Eine Dahlemer Jugendliche beschreibt zwei Tage später ihre Erlebnisse:
"... zur Jesus-Christus-Kirche. Sämtliche Wege zur Kirche sind abgesperrt. Wir werden mit einem
großen Zug Menschen von Schutzmännern weiter gedrängt. Hier und da sind
in Grüppchen und einzeln Pastoren mit und ohne Talar zu sehen. Um einen
sammelt man sich, er spricht den Segen und wird sofort verhaftet. E. und
sein Freund, der Sohn von Pastor Jannasch, stimmen Lieder an. Jannasch wird
verhaftet. So drängt der Zug weiter, zwischendurch werden Einzelne herausgegriffen
und verhaftet ... Da fahren zwei Polizeiautos an uns vorbei. Ein heftiges Winken
beginnt. In jedem der Autos sitzen sechs eben verhaftete Pastoren und
fahren zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Alle sind im Talar.
... Sankt Annen-Kirche. Sie ist von Polizisten versperrt, ebenfalls der Friedhof
und das Gemeindehaus. Da füllt sich die Straße und der Platz zwischen
Kirche und Gemeindehaus. Da stimmt einer an und tausende von Bekennern singen das
Lied: "Ein' feste Burg ist unser Gott". Die Polizei ist außer sich.
Das Überfallkommando
kommt und ein Haufen von Menschen, welche sich gerade an der Kirchhofmauer befinden, werden
umringt und sind sämtlichst verhaftet. Als das Lied aus ist, stimmt E. mit einigen anderen,
welche auf dem Platz stehen, "Erhalt uns Herr bei deinem Wort" an. Er und die
anderen werden als Verhaftete erklärt. Dennoch wird das Lied bis zu Ende gesungen,
dann das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser gesprochen. Nun kommen große Lastautos und
alle Verhafteten werden zum Polizeirevier und dann zum Alexanderplatz gebracht, wo sie verhört
werden. Die anderen Leute sind zur Matthäuskirche gegangen ...
... Ein Teil der Verhafteten ist bald wieder entlassen worden. E. kam in der Nacht
um halb zwei nach Hause, und mehrere sind noch heute, am 10.8., gefangen."
Betrachte die Bilder! Was für eine Atmosphäre entsteht? An einem Sommerabend durch die Straßen zu flanieren ist eigentlich etwas Schönes. Befreundeten Menschen in vorbeifahrenden Autos zu zu winken, gehört normalerweise zu einer fröhlichen, friedlichen Atmosphäre. Kirchenlieder werden in der Regel in einer schönen Kirche gesungen. Aber im Sommer 1937 ist alles anders. Jede Kleinigkeit bekommt eine neue Bedeutung und verlangt ungewöhnlichen Mut.
Die Zeichnungen* gehören eigentlich nicht zu diesem Text. Das erste Bild war ursprünglich die Zeitungs-Illustration zu einem ganz normalen Polizeibericht: Es zeigte die Festnahme eines Autodiebes. Polizist verhaftet Verbrecher. So wäre die Welt in Ordnung gewesen, aber sie war es nicht mehr. Die Menschen, die das Gute wollten, mussten erfahren, dass Gut und Böse nicht so verteilt sind, wie es "normalerweise" gedacht wird. Die Dramatik jenes Abends und das Unheimliche jener Zeit war weitaus größer als die simple Zeitungsanekdote "Schutzmann ergreift Autodieb". Was ist anders beim Bericht der Dahlemer Jugendlichen? Was sind die Rollen von Polizei und Verhafteten am Abend des 8.August 1937?
*Der Zeichner heißt Theo Matejko
Das zweite Bild mit Autos und Fahrrädern war ursprünglich ein Ausschnitt aus einem Science-Fiction mit dem Titel "Bomben über uns"*. Das war im Sommer 1937 noch nicht Realität. Der Krieg begann erst 1939 und die Bombennächte kamen erst in den 40er Jahren. Beide Illustrationen entstanden in den 30er Jahren und zeigen Szenen in den Straßen von Berlin. Man könnte dem Zeichner Theo Matejko bei seinem Science-Fiction fast schon prophetische Fähigkeiten unterstellen. Seine Illustrationen werden hier scheinbar zweckentfremdet eingesetzt. Sie können aber sehr gut die surreale Atmosphäre spürbar zu machen, in der sich die Bekennende Kirche befand. Anständige Bürger im wohlhabenden Villenviertel waren jetzt illegal. Pfarrer wurden reihenweise verhaftet. Kirchenlieder lösen bei den Staatsorganen Empörung aus. Das Glaubensbekenntnis wird zu einem riskanten Akt. Die Kirchen-Welt ist aus den Fugen geraten.
*Theo Matejko's Zeichnungen von Bombenangriffen und Giftgasangriffen im Jahr 1933, sehen aus wie realistische Abbildungen des Krieges 10 Jahre später.
Der heilige Augustinus (viertes Jahrhundert nach Christus) sagte: "Ein Staat ohne Gerechtigkeit ist nichts anderes als eine große Räuberbande". ("Iustitia remota quid sunt regna nisi magna latrocinia!" De civitate Dei IV, 4, 1)
Die Fürbittengottesdienste waren angesetzt worden, wegen der Redeverbote, Ausweisungen und Verhaftungen von Pastoren und Aktiven der Bekennenden Kirche, insbesondere der vorausgegangenen Verhaftung von Martin Niemöller. Aus diesen Fürbittengottesdiensten für verhaftete Pfarrer wurde dann in Berlin-Dahlem eine feste Tradition, weil in den folgenden Jahren immer viele Pfarrer in Gefängnissen, Gestapo-Zentralen und KZ's gefangen waren. Die Fürbittengottesdienste waren zugleich die Informationsweitergabe über den Stand des Kirchenkampfes und Spendensammelaktion für die Organisation der Bekennenden Kirche. Unten folgt eine Fürbittliste aus dem Jahr 1937. Der darin genannte Pastor Jannasch war der Vater des im obigen Bericht erwähnten Jannasch.