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Küstermann


Menue-Symbol Luther - 1. im Kloster - - 2. seine Zeit - - 3.1 Instanzen - - 3.2 Rechtfertigung - - 4. Entdeckung - - 5. Freiheit? - - 6. Brutalität - - 7. Was gilt vor Gott? - - 8. Bibel auf Deutsch - - 9.1 Luther und die Hexen A - - 9.2 Hexen B - - 10. Anton Praetorius gegen die Hexenverfolgung - - 11. Wirkung für die Freiheit - - 12. Wirkung für die Schule - - 13./14. Demokratie - - 15. Luther und die Juden -


Klasse 8

Material und Aufgaben für die neunte Woche

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Luther's Fehler

Der folgende Satz ist nicht auf gotisch, aber trotzdem erstmal unverständlich:
Luther's Fehler waren nicht seine eigenen, aber wir müssen sie korrigieren, als wären es unsere.
Mit den folgenden Lektionen sollst Du diesen Satz verstehen. Wir werden aber mehrere Lektionen brauchen, um die größten Fehler Luther's zu bearbeiten. All diese Lektionen folgen dem obigen Satz.

Luther und die Hexen / Teil 2

Wie sicher ist die Wirklichkeit?

Wie unterscheiden wir zwischen einer erfundenen Gruselstory und einem realen Verbrechen? Die modernen Menschen treffen diese Unterscheidung durch Kriminalistik und hinter der Kriminalistik steht letztlich die Wissenschaft. Die Wissenschaft zieht die Grenze zwischen wirklich und unwirklich. Aber die Wissenschaften wurden erst in den Jahrhunderten nach Luther entwickelt. Die mittelalterliche Angst vor Hexerei wird erst verständlich, wenn wir uns bewusst machen, wie sehr unser Sicherheitsgefühl von einer klar begrenzten Wirklichkeit abhängt. Das moderne Weltbild besteht nur zu einem kleinen Teil aus den Bewegungen der Planeten, auch der Erde, um die Sonne. Kopernikus lieferte nur einen Baustein für ein wissenschaftliches Weltbild. Mindestens genauso wichtig wie Kopernikus sind die physikalischen und chemischen Gesetze und auch das psychologische Verständnis für Wahnvorstellungen. All diese wissenschaftlichen Vorstellungen entstanden erst im Laufe einiger Jahrhunderte. Zumindest erreichten sie erst in diesen Jahrhunderten soviel Sicherheit, dass die Menschen darauf vertrauen konnten. Davor war alles möglich, wenn nur eine*r den richtigen Trick dafür wusste. Hex hex.

Der Gaunertrick mit dem Zauberhut

Ein "Hexer", Händler und Scharlatan mit dem Spitznamen "Lauterfresser", geboren etwa 1587, verübte im Gasthaus "Schwarzer Adler" in Brixen folgenden "Zaubertrick". Gemeinsam mit seinem Begleiter bestellt und verzehrt er jede Menge Essen und Wein. Dabei prahlen die beiden mit ihrem angeblichen Zauberhut, so dass es die anderen Gäste am Nachbartisch hören. Dann ruft er die Kellnerin zum Bezahlen und dreht dabei den Hut auf dem Kopf herum. Zuvor aber hatte der Lauterfresser mit der Kellnerin abgemacht dass sie sagen soll: "Es ist doch schon alles bezahlt". Ein Tischnachbar ist beeindruckt von der Zauberwirkung des Hutes und kauft den Hut für teures Geld. Der Lauterfresser und sein Kompagnon ziehen schnell weiter. Als der Hutkäufer seine Gasthausrechnung bezahlen soll, dreht er einfach den Hut auf dem Kopf herum. Doch die Zauberwirkung funktioniert leider nicht mehr. Im Streit wird er aus dem Gasthof hinausgeworfen.

Nach heutigen Maßstäben war es nur ein Trick-Betrug, aber weil der Lauterfresser für viele solcher Betrügereien berüchtigt war, oft mit irgendwelchen "Zauberzutaten", kam es zur Anklage nicht nur wegen Betruges sondern wegen Hexerei. Der Lauterfresser (eigentlich Matthias Perger) wurde 1645 als angeblicher Hexenmeister hingerichtet.

Der Wolfsbann

Vielleicht war es am Anfang nur ein Segensgebet, das ein nichtsesshafter Bettler als Dankeschön sprach über einen Bauernhof, in dem er ein Essen bekommen hatte. Zum Beispiel so: "Gott behüte dieses Haus vor Sturm und Feuersbrunst und Krankheit aller Art". Wenn die Bauern in harten Wintern auch Probleme mit den Wölfen hatten, dann kam der Schutz vor wilden Tieren mit in den Segensspruch. Und weil es sich auch für den Bettler gut anfühlte, dass er etwas zurückgeben konnte, wurde daraus ein kleines Gedicht. Ein Landstreicher lernte es vom anderen und aus den Schutz-Sprüchen wurde eine feste Tradition.

Es ist unsicher, ob die Wolfsbann-Sprüche so entstanden sind oder ob sie noch andere Ursprünge haben. Auf jeden Fall sind aus manchen Gegenden etliche solcher Wolfbann-Sprüche überliefert und die armen Leute, die mit diesen Sprüchen durch die Lande zogen, verstanden sich als eine Art Dienstleistungsgewerbe zur Abwehr von Wölfen. Hauptwerkzeug dieses "Wolfsbannerdienstes" waren Segensgebete, manchmal unterstützt durch rituelle Gebärden und Gegenstände.

... Da kommt der heilige St. Petrus mit dem Himmelsschlüssel.
Er versperrt allen wilden Tieren den Rüssel.
Dem Wolf genauso wie der Wölfin,
dem Bären genauso wie der Bärin,
dem Zauberer wie der Zauberin,
ihre Hände, ihre Füße,
ihren Mund und ihren Schlund,
damit sie euch in diesem Jahr kein Vieh nicht verzaubern und machen wund,
dass keine Haut reißt,
dass kein Bein beißt,
kein Blut lass aus
und keinen armen Mann mach daraus.
Zitat aus einem längeren Wolfsbann von 1615 (also noch lange nach dem Mittelalter)

Viele arme Menschen, die mit solchen Wolfsbann-Sprüchen ihren kleinen Lebensunterhalt verdienten, wurden dann wegen Zauberei angeklagt, unter der Folter verhört und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wie konnte es dazu kommen? Sie waren doch nur dankbare Bettler gewesen.

Verfluchungen sind die Machtworte der Machtlosen.

Aufgaben:

1. Versetze Dich in die Phantasie eines armen Landstreichers. Er strengt sich an, schöne und mächtige Worte für einen Wolfsbann zu dichten, lernt die Verse auswendig und spricht sie auf dem Bauernhof voller Inbrunst gegen die Wölfe und gegen alle wilden Tiere. Welche Macht-Phantasien sind da vielleicht in ihm entstanden?

2. Der Bettler hat seinen Wolfsbann schön gesagt, aber der Bauer will ihm trotzdem keine gute Verpflegung geben. Auf welche Ideen konnte der davongejagte Bettler dann kommen?

3. Wenn zufälligerweise in den folgenden Wochen, nach dem Davonjagen des Bettlers, ein Wolfsrudel in die Viehherde des Bauern einbrach und viel Schaden anrichtete, auf welchen Verdacht konnte dann der Bauer kommen?

Wirklichkeit oder Hirngespinst?

Die hier beschriebenen Beispiele waren keine Absonderlichkeiten, sondern galten damals als "normal". Unsere Einschätzung von Wirklichkeit hängt ab von der Kultur, in der wir leben. Auch Martin Luther hatte kein anderes Weltbild zur Auswahl. Wie die meisten seiner Zeitgenossen hielt Martin Luther "Schadenzauber" für ein reales Verbrechen. Dass eine Giftmischerin Vieh und Menschen töten könnte, vielleicht sogar aus der Distanz (also per "Fernwirkung") galt als durchaus vorkommender Teil der Wirklichkeit. In seiner Wut und Angst wetterte Luther gegen solche Verbrechen, von denen aus heutiger Sicht wenige real, die meisten aber nur fiktiv waren. Weil es im Alten Testament eine Stelle gibt, wo es heißt: "Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen", war Luther für die Hinrichtung von Hexen. Er hatte Teil am Hexenwahn.

Martin Luther im unpassenden Hexenmantel

Ein falsches Bild von Luther und den Hexen.
Gimpage von Harald Kuestermann @ RoteSchnur.de.
Weiterverwendung unter der Lizenz CC-BY-SA 4.0 de.

Für ein Hirngespinst hielt Luther dagegen die Geschichten vom Hexensabbat auf dem Blocksberg und vom Hexenflug auf einem Ziegenbock oder einem Besenstiel dorthin. Davon steht nichts in der Bibel, also sei es wohl nicht wirklich. Nicht nur Luther steht kritisch zu den Hexenflug-Geschichten, sondern diese Einschätzung war eigentlich offizielles Kirchenrecht seit dem Canon Episcopi.

Der Canon Episcopi

Die Ablehnung der Hexenflug-Vorstellung war eigentlich schon vom Canon Episcopi kirchenrechtlich festgelegt worden. Der Canon Episcopi war eine im Jahr 906 in Trier festgehaltene Vorschrift zur Beurteilung von Aberglauben. Die angeblichen nächtlichen Flüge von Frauen im Gefolge der heidnischen Göttin Diana werden in dieser Schrift als Einbildung und Wahnvorstellung eingeschätzt. Der Canon Episcopi fand zwar alles schlimm und verwerflich, was mit einer heidnischen Göttin zu tun hatte, aber er beuteilte solche Geschichten eben nicht als Realität sondern als "Einbildung und Wahnvorstellung". Demnach hätte eine Frau, die solche Wahngebilde hatte, nicht nach anderen Teilnehmerinnen des Fluges befragt werden können, weil der Flug ja nicht als reales Ereignis stattgefunden hatte, sondern nur in ihrer Einbildung. Der Canon Episcopi war im 16. Jahrhundert eine wichtige Argumentationshilfe für die Kritiker der Hexenverfolgung.

Tollkirsche und Bilsenkraut

Eine mögliche Erklärung für die Vorstellung vom Hexenflug könnten manche Pflanzengifte geben. Die Tollkirsche (Atropa Belladonna) zum Beispiel, erzeugt Träume und Halluzinationen von Flugerlebnissen, die sich so real anfühlen können, dass die vergifteten Menschen glauben, sie seien tatsächlich geflogen. Auch das in der mittelalterlichen Medizin verwendete Bilsenkraut (Hyoscyamus) steht im Verdacht, Berauschung und totenartige Atemlähmung zu verursachen. Wenn solche falsch dosierten Heilkräuter die Ursache waren, dann machten die Hexenverfolger also Jagd auf Halluzinationen und von ihren Opfern haben manche vielleicht selber geglaubt, sie wären nachts durch die Lüfte geflogen.


Martin Luther im passenden Hexenmantel

Ein richtiges Bild von Luther und den Hexen.
Gimpage von Harald Kuestermann @ RoteSchnur.de.
Weiterverwendung unter der Lizenz CC-BY-SA 4.0 de.

Der Domino-Effekt

Bei den Hexenprozessen wurden die Verdächtigen unter Folter befragt, wen sie beim Hexensabbat getroffen hatten und sie mussten Namen nennen. Die Schlaueren nannten dann die Namen ihrer Feinde, denn die Genannten wurden als Nächste verhaftet und verhört. Manche waren aber von der Folter schon so verwirrt, dass sie einfach irgendwelche Nachbarn nannten, die ihnen gerade einfielen. So brachte jedes Folterverhör neue Verdächtigungen in Gang, wie eine Reihe von Dominosteinen. Einer fällt und bringt die nächsten zum Fallen.

Solange Hexerei nur ein Vorwurf gegen Einzelpersonen war, gab es nur einzelne Hexenprozesse. Erst mit der Theorie, es gäbe eine Hexenzunft, die sich zu großen Festgelagen trifft, wurde der Hexenwahn zur Massenseuche. Die Fiktion vom Hexenfest auf dem Blocksberg oder sonst einem vermuteten Hexentanzplatz verwandelte die bisherigen Einzelfälle in eine schnell wachsende Lawine von Hexenprozessen. Wenn ein Hexenverfolger an die Theorie von Hexenzunft und Hexensabbat glaubte, und dementsprechend die Gefolterten befragte, löste das die Lawine aus.

Aufgaben:

4. Vergleiche Text (Domino-Effekt) und Bild 1 (roter Mantel). Was ist falsch am Bild von Luther und den Hexen?
(Die Frage bezieht sich nicht darauf, dass es eine Montage aus verschiedenen Bildern ist, sondern ...?)

5. Vergleiche Text (Domino-Effekt) und Bild 2 (graublauer Mantel). Was ist richtig am Bild von Luther und den Hexen?

Martin Luther als mittelalterlicher Mensch

Martin Luther war immer noch ein mittelalterlicher Mensch. An vielen Stellen seines Denkens hing er fest in den traditionellen Denkweisen seiner Zeit. Seine großartigen Entdeckungen in der Bibel vom gnädigen Gott, seine mutige Standkraft zur Gewissensfreiheit und zur Wahrheit des Individuums, seine befreiende Bibelübersetzung als Zugang zu Gott für alle Menschen, all das waren revolutionäre Schritte zu einer neuen Welt. Martin Luther hat an vielen Stellen die Grundlagen geschaffen für den Anbruch des modernen Zeitalters, aber einer allein kann nicht alles neu machen, schon gar nicht sich selbst. Luther's Fehler waren nicht seine eigenen, sondern es waren die Fehler, die damals allgemein üblich waren. Aber das ist erst ein Teil unseres Ziel-Satzes.

Erst eine Generation nach Luther zeigte sich die Gefahr und der Widerstand dagegen:
Anton Praetorius gegen die Hexenverfolgung