Um es noch schwerer zu machen könnten wir auch sagen: ..."schwäbische" Automarke?
Die Automarke Peugeot begann im Jahr 1891 mit der Serienfabrikation von Automobilen. Die Gründerfamilie Peugeot war evangelisch und betrieb schon mehr als hundert Jahre davor ein Unternehmen bestehend aus Ölmühle, Gerberei und Färberei in der Grafschaft Montbeliard. Das französische Montbeliard hört aber auch auf den ach wie eleganten schwäbischen Namen "Mömpelgard" und war seit dem Mittelalter im Besitz der Württemberger. Voilá: Peugeot ist württembergisch und evangelisch, also die älteste schwäbische Automarke. Keine Sorge! Natürlich will niemand unseren lieben Nachbarn einen ihrer renomiertesten Automobilproduzenten entnationalisieren. Peugeot ist französisch und Montbeliard klingt viel schöner als Mömpelgard. Was bitte ist ein Mömpel und in welchem Garten wird er gehalten? Auch meine schwäbischen Stammesgenoßen mögen mir den kleinen historischen Seitenhieb gegen Mercedes verzeihen. Möge der VfB endlich mal wieder gewinnen, damit die Nerven nicht mehr so blank liegen in Stuttgart.
Die Brüder Jean-Frédéric und Jean-Pierre Peugeot bauten auf dem Gelände der elterlichen Ölmühle eine Eisengießerei auf und produzierten Sägeblätter, Uhrenfedern und Korsettstäbe. Weiß jemand, was Korsettstäbe sind? Später wurde die Produktpalette erweitert auf mechanische Schermaschinen, Federn für Phonographen, diverse landwirtschaftliche Geräte, Rasierklingen, Bügeleisen und Kaffeemühlen und auch Pfeffermühlen. Spüren Sie den Flair der Industrialisierung? Und ahnen Sie etwas von diesem rührigen Unternehmergeist? Auch die Gourmet-Sparte beweist Peugeot's Zugehörigkeit zur französischen Kultur. Denn die Firma war schon längst über die Grenzen der Grafschaft Mömpelgard hinaus bekannt. Am 20. November des Jahres 1858 wurde der Löwe für die Erzeugnisse von Peugeot als Markenzeichen registriert.
Yuval Harari benutzt Peugeot als Erklärungsmuster für die besondere "menschliche"
Art von Wirklichkeit, mit der unsere Gesellschaft und alle anderen menschlichen Gesellschaften arbeiten
und zusammenarbeiten. Harari schreibt:
"Im Jahre 1896 machte Armand Peugeot aus dem Familienbetrieb das Unternehmen 'Société Anonyme des Automobiles Peugeot'.
Er taufte das Unternehmen zwar auf seinen Namen, doch es existierte unabhängig von ihm.
Wenn eines seiner Autos liegenblieb, konnte der Kunde das Unternehmen Peugeot verklagen,
aber nicht Armand Peugeot persönlich. Wenn das Unternehmen Peugeot Millionen von Franc
aufnahm und pleite ging, dann schuldete Armand Peugeot den Gläubigern nicht einen einzigen Franc.
Den Kredit hatte schließlich das Unternehmen Peugeot aufgenommen, nicht der Sapiens Armand Peugeot.
Der Gründer starb im Jahr 1915. Das Unternehmen Peugeot existiert bis heute."
These 1: Es sind die Fabrikhallen und Maschinen. Das ist die Wirklichkeit von Peugeot. So wäre wohl das Empfinden
jenes Zeitalters gewesen, in dem die mächtigen Maschinen den Menschen (Unternehmer sowohl als Arbeiter)
faszinierten. Aber diese "Wirklichkeit" stimmt nicht wirklich, denn wenn die Fabriken in
einem Erdbeben zerstört würden, hinge es von den Versicherunsverträgen und von der
Zahlungskraft der zuständigen Versicherungsunternehmen ab, ob Peugeot weiter existiert.
Mit einer angemessenen Versicherungssumme, nämlich in Höhe des entstandenen
Schadens könnte Peugeot die Fabriken wieder aufbauen. Es wäre zumindest denkbar,
dass eine Firma aus einer solchen Katastrophe gestärkt und modernisiert hervorgeht.
Die Firma Peugeot besteht also nicht aus Fabrikhallen und Maschinen.
These 2: Das Management bildet die Wirklichkeit von Peugeot. Auch das stimmt nicht. Management ist austauschbar.
Wenn z.B. in einem Korruptionsprozess die Top-Manager zu Haftstrafen verurteilt werden, könnte die nächste
Aktionärs- oder Teilhaber-Versammlung einen neuen Aufsichtsrat und neue Manager bestimmen
und vielleicht mit ein bisschen Glück den Kollaps der Firma abwenden.
These 3: Die Wirklichkeit von Peugeot besteht aus den Anteilseignern, Aktionären
oder wie auch immer nach französischem Recht die Menschen heißen, denen Peugeot gehört.
Dies wäre aber eine sehr fluktuierende Wirklichkeit, denn viele Aktionäre nehmen
nie an Aktionärsversammlungen teil, sondern kaufen und verkaufen ihre Anlagen in irgendwelchen
Fonds und verlassen sich auf den Fondsmanager, dass er die richtigen Aktienbündel
zusammengeschnürt habe. Ob sie momentan gerade Peugeot oder Mercedes in ihrem
Portefeuille haben ist ihnen vielleicht nicht einmal bewusst. Die Beziehung des einzelnen
Anteilseigners zu Peugeot kann also sehr dünn und wechselhaft sein. Das Unternehmen
besteht weiter trotz fluktuierender Aktionärspersonen.
These 4: Besteht die Wirklichkeit der Firma in den rund 200 000 Mitarbeitenden, die (meist ohne miteinander verwandt zu sein und ohne sich persönlich zu kennen) in offensichtlich erfolgreicher Zusammenarbeit z.B. im Jahr 2008 rund 1,5 Millionen Fahrzeuge produzierten? Auch das ist keine sehr sichere Wirklichkeit, wenn nämlich eine billige Art von Robotern erfunden würde, die dasselbe Fahrzeug zu wesentlichen günstigeren Kosten produzieren können, dann müsste das Management sehr zügig die Mitarbeiterschaft entlassen und auf die neuen Roboter umstellen, um mit der Konkurrenz der anderen Automobilhersteller mithalten zu können, die eben dasselbe tun würden.
Am Beispiel der Firma Peugeot zeigt Yuval Harari, wie weitgehend menschliche Gesellschaften darin bestehen, dass sie ein gemeinsames System von "Mythen" erzeugen, also eine Sammlung von Geschichten, an die wir glauben. Der Fließbandarbeiter glaubt, dass es Peugeot gibt, deshalb geht er zu Schichtbeginn in die Fabrik und arbeitet. Der Maschinenhersteller glaubt, dass es Peugeot gibt, deshalb liefert er die bestellten Maschinen und baut sie in den Fabrikhallen auf. Die Anteilseigner glauben an Peugeot, deshalb legen sie ihr Geld in Peugeot an. Die Bankiers glauben an Peugeot, deshalb vergeben sie Millionenkredite an diese Fiktion und überweisen digital die Gehälter der Peugeot-Mitarbeiter vom Firmenkonto auf die Gehaltskonten. Die Juristen glauben an Peugeot, deshalb verhandeln sie über Versicherungs-Verträge und Handelsabkommen und Gesetze, in denen die Verhältnisse zwischen all diesen fiktiven Existenzen (Firmen, Staaten, Anteilseignern, Lieferanten usw.) geregelt werden. Die Kunden von Peugeot müssen vielleicht noch am wenigsten glauben, sie bekommen ja ein aus realem Stahl und Plastik bestehendes Produkt und dürfen es sogar anfassen und probefahren, bevor sie ihr (fiktives) Geld dafür überweisen, also fiktiv von einem virtuellen Ort (Bankkonto) auf einen anderen virtuellen Ort (anderes Bankkonto) übertragen. Die Kunst jeder Gesellschaftsbildung besteht darin, ein vertrauensvolles Zusammenspiel aller Beteiligten zu erzeugen. Alle gesellschaftlichen Anstrengungen dienen dazu die Akteure zu vertauenswürdigem Verhalten zu erziehen. Wer bei seinem eigenen Verhalten die Erfahrung macht, dass die anderen Akteure vertrauenswürdig sind, und dass man sich in der so zusammengesponnenen Wirklichkeit einigermaßen sicher bewegen kann, der spielt mit in diesem Spiel namens Wirklichkeit.
Peugeot existiert, wie der allergrößte Teil unserer gesellschaftlichen Organisation eigentlich als eine Fiktion. Nur weil alle Beteiligten daran glauben, deshalb gibt es das Unternehmen Peugeot. Und nur aus dem Glauben der Beteiligten bestehen alle anderen Unternehmen, alle Institutionen, alle Staaten und alle NGO's. Jede Kultur und Gesellschaft erzeugt in ihrer diskursiven Praxis eine Art kollektiven Wahn, einen gemeinsamen Glauben, der nicht individuell hervorgebracht und geändert werden kann, sondern aus der gesellschaftlichen Kommunikation, den Verhaltensweisen und Institutionen besteht, erzeugt und erhalten wird. Beispiel: Wenn alle sich so verhalten, als wäre das Geld etwas wertvolles und wichtiges, dann wird es das wirklich in dieser Kultur und Gesellschaft. Jemand der nicht daran glauben wollte, bekäme Probleme, würde notfalls sogar als Wahnsinniger eingesperrt.
Ich überzeichne ein bisschen, Harari drückt sich zurückhaltender aus. Wenn wir sagen "Es gibt..." dann meinen wir in den meisten Fällen das durch unseren gemeinsamen Glauben Hervorgebrachte. Der Glaube ist das "Es", das alles "gibt". Der Homo sapiens sapiens hat es weit gebracht, seit damals die Schamanen mit dem Löwenfell ums Lagerfeuer auf der Schwäbischen Alb tanzten und ihren Stammesgenossinnen und -Genossen dann die Story erzählten vom Löwengeist, dem sie im Trancetanz begegnet waren. Und die anderen haben die Story geglaubt. Gibt es Löwengeister wirklich?
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