Gegen manche Klischees von Hexenwahn und für die multiperspektivische Analyse der Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit / Teil 8 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2020aug21
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Die Theorie von Margaret Murray zum Beispiel galt der Wissenschaft von Anfang an als eine eher romanhafte Wendung zu James George Frazer's religionsgeschichtlichem Werk "Der goldene Zweig". Nach Meinung der Wissenschaft hätte Margaret Murray einfach untergehen müssen im Strom der Forschungsgeschichte. Sie schwimmt aber oben, auf einem anderen Strom. Obwohl wissenschaftlich unhaltbar, wurde Murray's Theorie prägend für die Gründung neopaganer Organisationen, die sich mit allem Ernst als Nachfolger der von Murray behaupteten Hexenreligion sehen. Weder in der Antike noch im Mittelalter existierte diese Hexenorganisation, aber die nach Murray's Gespinst gebildeten Realisierungen gehören - nicht in Europa, sondern in Amerika - zu den wachsenden Neu-Religionen. Woher kommt das religiöse Potential einer Theorie? Und welche Rolle spielt dabei die Wahrheit? Hat die Wissenschaft das Monopol auf die Wahrheit, wie früher die großen Religionen?
Margaret Murray meinte, eine Religion der Vergangenheit zu beschreiben. Mit ihrer sehr engen Auswahl von historischen Quellen, meinte sie im Mittelalter eine Hexenzunft zu erkennen, samt Ritualen, Festkalender und Organisationsstruktur. So ähnlich hatten das auch die Hexentheoretiker der Frührennaissance gemacht. Die Hexenjäger hatten ein Feindbild für ihre Gegenwart konstruiert. Murray malte sich ihren Wunschtraum von der Vergangenheit. Dabei gestalten beide Parteien ihre jeweiligen Bilder auf ganz ähnliche Art. Die Negativ-Phantasien der Hexenjäger, was sie als böse und gruselig beschrieben, übernimmt Murray und ändert deren Bewertung ins Positive. Murray's Rezept enthält neben den Ideen der Hexenjäger etliche Zutaten aus der religionsgeschichtlichen Forschung von James Frazer, dazu eine wohl britische Lust am Abgründigen, und vielleicht auch eine größere Portion Hass auf die Nichtanerkennung ihrer ägyptologischen Arbeit. Letzteres - nämlich ihr Hass - könnte die vergiftende Zutat gewesen sein. Vor allem aber ergreift sie Partei für die Verfolgten und Verbrannten. Das wiederum wäre moralisch sehr zu loben, wenn sie dabei nicht ihre eigenen Phantasien den Verfolgten und Verbrannten unterstellen würde. Murray trifft aber mit ihrem Wunschgebilde anscheinend sehr genau die Wünsche anderer moderner Menschen. Die Vergangenheit war zwar nicht so, wie von Murray beschrieben, aber die gegenwärtigen Wicca-Kulte formen sich weitgehend nach ihren Theorien und adoptieren diese erfundene Vergangenheit als ihre vermeintlich wahre Herkunft. Jetzt, nach Murray, gibt es sie ganz real, die Hexenzunft. Egal wie gut die Wissenschaft Murray widerlegt, der Glaube der Wicca-Anhänger*innen lässt sich davon nicht beeindrucken.
Bis vor einigen Jahrzehnten hatte auch die Wissenschaft noch Probleme, die Hexenverfolgungen abzugrenzen und einzuordnen in die zutreffende Größe und in ihre tatsächliche Zeit. Es war einfach schwierig, die Linien zu sortieren. In meiner Studentenzeit gab es durchaus anspruchsvolle, wissenschaftliche Bücher von Claudia Honegger (1979), die zumindest schon mal die Hexen aus dem Mittelalter in die Neuzeit gehievt hatte, und von Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, die die Hexenverfolgungen interpretierten als eine Aktion gegen das Verhütungswissen von Hebammen und Naturheilkundigen. "Die Vernichtung der weisen Frauen" hieß das Buch (1985). Das war schon viel besser als die alten Phantasie-Kochtöpfe mit ihrer Krötenbrühe, aber immer noch ein Stochern im Nebel. Es hätte wohl schon weitere Forschungen von Richard Kieckhefer und Norman Cohn gegeben, die aber nicht bis zu mir vorgedrungen waren.
Je mehr die Quellen erforscht wurden, je mehr Unterlagen aus den Prozessprotokollen nachgelesen und ausgewertet wurden, desto mehr veränderte sich das Bild. In den Folterverhören hatten die neuzeitlichen Hexenjäger offensichtlich schon klare Vorstellungen, was als Geständnis herauskommen sollte. Und die Angeklagten wurden solange gefoltert, bis das herauskam, was man hören wollte. Das vermeintliche Wissen der Hexenjäger, was eine Hexe sei und was sie so treibe, stammte nicht aus wirklichen Begegnungen und Nachforschungen im finstern Walde, auch nicht aus echten Gesprächen mit den Betroffenen, sondern aus den Büchern der Hexentheoretiker. Die "kumulative Hexentheorie", so nennen das die Historiker, war eine Art von Ideologie, ein ausgeklügeltes Hirngespinst von Gelehrten. In der Westschweiz waren Hexenprozesse nach solchen vorgefertigten Theorien geführt worden vom Berner Landvogt Peter Greyerz. Schon da ging es um politische Machtinteressen in quasi kolonialer Manier. Die Hexentheorie diente als religiöser Vorwand dafür, die regionalen Sitten zu diffamieren und das Selbstbestimmungsrecht der Dörfer zu brechen. Die Menschen zu unterwerfen war die treibende Kraft, deren vielleicht vorhandenen religiösen Eigenarten, wurden nur benutzt. Und diese Art der Hexenverfolgung verbreitete sich in die deutschsprachigen Gebiete.
Über die Ursprünge der Hexentheorie wird noch geforscht. Aus der Westschweiz gibt es Hinweise auf die Lombardei. Niklaus Schatzmann zeigt die norditalienischen Varianten der Hexenprozesse. Schon im Jahr 1422 wurde in Mailand eine Frau verurteilt, weil sie an den nächtlichen Treffen der "Societas de ludo"
(Gesellschaft des Spieles) teilgenommen hatte und im Aostatal gab es die modernen Hexenprozesse in den Jahren 1434-1449. War die Societas de ludo ein esoterischer Hausfrauen-Club?
Die älteste Spur der Kombination von Katharerstereotypen mit dem Hexensabbat erscheint im norditalienischen Pinerolo im Jahre 1387. Das war die Zeit, als Boccaccio und Petrarca in der Literatur schon die Fundamente für die Renaissance gelegt hatten, Brunelleschi aber noch ein Knabe war.
Ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit war im Entstehen. Auf welche Fundamente wurde es gegründet?
Norditalien war die kulturelle und wirtschaftliche Avantgarde jener Zeit. Aus den norditaliensichen Städten stammen die frühkapitalistischen Entwicklungen, und in den Bergtälern hatten manche Katharer und vorreformatorische Bewegungen Schutz gesucht.
(Niklaus Schatzmann. Plädoyer für die Erforschung der frühen Hexenverfolgung im norditalienischen Raum).
Zu den Vorstellungen der Hexentheoretiker gehörte der Ritt auf einem Besen oder einer Gabel durch die Lüfte, dann der große Hexentanz zum Beispiel auf dem Blocksberg. Das war nichts Neues, nur hatte es im ganzen Mittelalter als eine Illusion, ein Delirium gegolten. Die kumulative Hexentheorie aber glaubte jetzt daran, glaubte an die Realität von Hexenfestivals. Ein ganz realer Hexentanz war natürlich sehr schön für die Hexenjäger, denn wenn die Hexen sich treffen, dann muss ja jede Teilnehmerin dort irgendwelche anderen Hexen gesehen haben. Die Namen der anderen kann man aus ihr herausfoltern. Das führt zu weiteren Verhaftungen, zu weiteren Folterverhören, zu weiteren Namen. Und dann ist die Lawine am Rollen.
Durch das ganze Mittelalter hatte die Einschätzung gegolten, dass ein Hexenritt durch die Lüfte nur in der Einbildung stattfinden würde. Der Hexenritt mit der anschließenden großen Orgie wurde als Halluzination eingeschätzt, ob durch giftige Kräuter hervorgerufen oder durch böse Geister, könnte man diskutieren, aber im Mittelalter konnte keinesfalls eine Hexe nach dem Erwachen befragt werden: Wem bist du dort begegnet? Denn sie war nirgends gewesen, außer in ihrer Phantasie, in ihren Halluzinationen, in ihrem Rausch. So war die offizielle, rechtsgültige Beurteilung im angeblich so abergläubischen Mittelalter. Diese Einschätzung war festgeschrieben im Canon Episcopi, einer wichtigen Rechtssammlung.
Die neuen Hexenjäger in der frühen Neuzeit glaubten dagegen, der Hexenritt samt Hexentanz würde körperlich, materiell stattfinden und das war der folgenreichste Unterschied zu früheren Zeiten.
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