/ Teil 1 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2020jan29
Das Gesicht wurde von einem steinzeitlichen Bildhauer aus Gips geformt, aber die Basis dahinter ist ein echter Menschenschädel. Beides zusammen ist aus einer der neolithischen Ausgrabungsschichten von Jericho. Es ist also keine reine Skulptur, kein bloßes Abbild, frei modelliert vom Bildhauer, sondern der dargestellte Mensch selbst steckt noch mit drin, wenn auch "nur" in Gestalt seines Schädelknochens. Der Portraitierte ist sehr intensiv und sehr körperlich mit dem Portrait verbunden. Das Kunstwerk ist Teil seiner Bestattung.
Der Bildhauer (oder die Bildhauerin?) hätte vielleicht mit einem ägyptischen Mumifizierer ein kollegiales Gespräch führen können, aber die beiden gemeinsame Vertrautheit im Umgang mit Toten, war im Einzelnen doch keine Gemeinsamkeit. Die beiden Arten der Totenbehanbdlung waren sehr unterschiedlich. Die ägyptischen Mumien werden für den Aufenthalt im Jenseits eingepackt. Sie werden eingeschlossen in vielschichtigen Sarkophagen, verborgen vor der Außenwelt und möglichst jedem Zugriff entzogen. Die Schädel von Jericho dagegen wurden wahrscheinlich sichtbar aufgestellt und sollten im Kultraum als "Gesprächspartner" der Lebenden fungieren. Die Schönheit dieses Kopfes diente nicht dem profanen Kunstgenuss, sondern trug in sich die religiöse Hingabe und Magie eines Ahnenkultes und eines für uns ungewohnten Umgangs mit dem Tod und mit den Toten.
Die steinzeitliche Bewohnerschaft von Jericho beerdigte zumindest manche ihrer Verstorbenen in jenen Gebäudeteilen, die von den Archäologen als "Hausflur" bezeichnet wurden. Und irgendwann später, wenn die verweslichen Teile vergangen waren, holten sie den Schädel des Toten wieder heraus aus dem häuslichen Grab. Das vergangene, ehemals fleischliche Gesicht wurde mit formbarer Masse auf dem Originalknochen neugebildet und anscheinend auch farblich "wiederbelebt". Rötliche Farbe findet sich sogar jetzt noch, zehntausend Jahre nach der Bestattung auf der "Skulptur", also auf dem nachgebildeten Gesicht des Totenschädels. Die Augen wurden aus Muschelschalen zusammengesetzt oder als ganze Kaurimuscheln eingesetzt. Beides wirkt sehr lebensecht. Das Perlmutt mit seiner weislichen Farbe und seiner glänzenden Oberfläche kommt dem menschlichen Auge recht nahe. Die Archäologen meinen auf manchen dieser Schädel auch aufgemalte Bärte zu erkennen. Der frisch "renovierte" Kopf wurde dann wohl würdevoll aufgestellt. Der Verstorbene war somit wieder im Hause gegenwärtig und man konnte ihm auch ein Schälchen mit Essen servieren, wenn die Familie zusammen aß. Oder war es eine Lineage, ein Clan, eine Kultgemeinschaft, die da zusammen saß beim Schmaus im Angesicht der Toten? Das Opferschälchen mit dem Essen vor dem Schädel ist vielleicht nur (m)eine Phantasie vom neolithischen Ahnenkult, aber die Totenköpfe sind echt.
Kathleen Kenyon, die diese Totenschädel zwischen 1952 und 1958 also nach zehntausend Jahren unterirdischer Verborgenheit ans Licht geholt hat, wurde damit zur vielleicht wichtigsten Archäologin der bisherigen Geschichte. Die "British School of Archaeology in Jerusalem" wurde im Juli 2003 offiziell umbenannt in "Kenyon Institute". Kenyons Bericht "Digging up Jerico" ist einer der großen Klassiker der archäologischen Literatur und die Schichtenfolge im "Tell es-Sultan", wie das alte Jericho unter Archäologen heißt, gilt heute noch als die "Königin der Stratigraphien". Sie ist der Maßstab an dem die neolithische Kulturentwicklung des vorderen Orients abgelesen wird.
Die anderen übermodellierten Schädel von Jericho sehen nicht mehr ganz so schön und würdevoll aus wie dieses Prachtexemplar, aber der dahinter stehende Totenkult gilt auch für sie. Vielleicht wurde nur von besonders wichtigen Ahnen der Schädel herausgeholt und auf einen Ehrenplatz gestellt, aber auch wenn es nicht das Standard-Bestattungsverfahren für Normalsterbliche war, zeigt sich darin doch ein grundsätzliches Verständnis der neolithischen Menschen von Tod und Leben. Die Vergangenheit und die Verstorbenen wurden nicht einfach ad acta gelegt, damit die Lebenden zur exklusiv den Lebendigen vorbehaltenen Tagesordnung übergehen konnten, sondern die Toten hatten in der Tagesordnung des Lebens einen offensichtlich wichtigen Platz. Oder war es vielleicht eher ein Platz in der "Jahresordnung" des Lebens? Spätere Kulturen haben mit dem "Totensonntag", "Samhain", "Allerseelen" und ähnlichen Festen eine Ahnung von diesem Umgang mit den Toten bewahrt.
Für heutige Menschen erscheint vieles fremd, weil wir es gewohnt sind, uns vom Tod und von den Toten fern zu halten. Wir fühlen uns sicherer im Leben, wenn wir alles, was mit dem Tod zu tun hat, weit weg schieben können. Unsere Lebendigkeit wird gewonnen durch Verdrängung des Todes. Und es wäre uns mulmig, wenn die Vorfahren so nahe bei uns stünden und uns aus Muschelaugen anschauen würden. Aus heutiger Sicht erscheinen die Bestattungsgewohnheiten der Leute von Jericho als makaber, schon fast ein bisschen psychopathisch, aber damals war das anscheinend normal.
Nur wenige Kilometer östlich von Jericho liegt eine andere Ausgrabungsstätte einer wichtigen frühneolithischen Siedlung: 'Ain Ghazal, die "Gazellenquelle". Dort wurden Zwillingstonfiguren gefunden, die fast wie Stabpuppen aussehen, aber ebenfalls Menschenknochen enthalten. Welche Puppenspiele wurden da gespielt? Wer waren die spieler, wer das Publikum und vorallem: Wer waren die Toten, mit denen da gespielt wurde?
Beim globalen Vergleich steinzeitlichen Umgangs mit den Schädeln Verstorbener sieht es so aus, als wären die Jericho-Leute ganz normale Homosapiens ihrer Zeit gewesen. Ihr Schädelkult war sozusagen internationaler Standard in der jungsteinzeitlichen Menschheit. Vielleicht lassen sich heutige nekrophile Psychopathien (z.B. gewisse Geheimbünde und ihre pietätlose Behandlung des Schädels von Häuptling Jeronimo) als ein Rückfall in jene früheren Kulturschichten erklären. Nicht die "Steinzeitler" waren psychopathisch, sondern manche moderne Menschen verhalten sich steinzeitlich. Der Schädelkult ist eine Basiskultur des Homosapiens und eine ziemlich mächtige Schicht in der Stratigraphie des kollektiven Unbewussten. Vielleicht gehen alle späteren Statuen, alle Abbilder der menschlichen Gestalt, alle Porträtbüsten und Reiterstandbilder, alle bildhauerische Kunst darauf zurück, einen wichtigen Verstorbenen quasi zum Leben zu erwecken durch Nachbildung seiner Gestalt, seines Gesichts, durch die Übermodellierung der toten Knochen mit Ton oder Gips oder Mullbinden.