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zu Marie König's Buch: Am Anfang der Kultur / Teil 1 /  Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2019okt05

Geist, schon in der Tiefe der Zeit?

Verrückte Relikte der Steinzeit, genial interpretiert von Marie E.P. König

Die Steinritzungen in den Höhlen der Île de France, besonders die Parallel-Linien und Linien-Netze hat Marie König ausführlich untersucht, ebenso die in den Fels geriebenen Vertiefungen, kleine Näpfe und Schalen. Aus diesen sehr abstrakten Mustern versucht sie ein Weltbild der Steinzeitmenschen zu erahnen.

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Liniennetze, Felsritzungen aus Boissy aux Cailles, Departement Seine-et-Marne, Photo aus: Alain Bénard et Colas Guéret, "The Decorated Mesolithic Rock Shelters South of Île-de-France: Revision of the Archaeological Data and Research Perspectives", Palethnologie [En ligne], 6 | 2014, mis en ligne le 10 février 2014, consulté le 04 octobre 2019. URL : http://journals.openedition.org/palethnologie/1678 ; DOI : 10.4000/palethnologie.1678 Lizenz: CC-BY-NC-ND (noncommercial, no-derivates)

weitere Photos von den Felsgravuren

Ein Weltbild aus Kerben?

Ihre Arbeit wurde von der Wissenschaft nur sehr zögerlich aufgenommen. Kein Wunder, denn eine tief eingeritzte Kerbe im Felsen könnte auch einfach durch das häufige Schleifen von Steinwerkzeugklingen entstanden sein und bei den runden Vertiefungen fällt sogar die Unterscheidung zu natürlich entstanden Kuhlen schwer. Und diese Felsritzungen sind sehr schwer zu datieren. Die meisten dieser Felsritzungen gelten als mesolithisch. Aber Marie König verwendet für ihre Theorie auch Funde aus dem Moustérien und noch weiter zurück ins Acheuléen, viele Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa. Irgendwelche minimalen, beinahe zufälligen Hinterlassenschaften von früheren Menschenarten als "Weltbild" zu interpretieren, ist schon ein bisschen kühn. Wie weit zurück in die Tiefen der Zeit darf die Symbolbildung des Menschen gedacht werden? Und wie groß darf der Inhalt jener frühen Symbole gedacht werden? Muss es denn gleich ein Weltbild sein? Die Wissenschaft ist sensibel wenn es um's Weltbild geht, denn ihre eigene Identität hat sie historisch an der Weltbildfrage festgemacht. Mit dem Umbruch vom geozentrischen Weltbild des Mittelalters zum heliozentrischen der Neuzeit beginnt offiziell der Siegeszug der Wissenschaft. Nikolas Kopernikus, Giordano Bruno und Galileo Galilei sind die Gründungsheroen dieses neuen Zeitalters. Ihr Kampf gegen die Dogmen der mittelalterlichen Kirche bildet den Entstehungsmythos der Wissenschaft. An diesem dicken Nagel hat sie ihr Selbstbewusstsein aufgehängt. Leider steht der Stolz auf das moderne Weltbild manchmal ein bisschen im Wege, wenn es darum geht frühere Weltbilder zu verstehen. Eine leise Eifersucht wird spürbar, dass "unser" Weltbild doch das einzig Richtige sei. Für unser Überlegenheitsgefühl sollen die Weltbilder der anderen und früheren Kulturen immer ein bisschen dümmer dastehen, als sie sind. Noch lieber wäre es den Teilhabenden der herrschenden Kultur, wenn die Steinzeit gar kein Weltbild gehabt hätte. So eine meist unbewusste, aber doch mächtige Tendenz besteht noch immer in populären Weltbild-Diskussionen. Gegen diese Strömung schwimmt Marie König an.

Die von Marie König dargebotenen Fotos zeigen viele, sich auch wiederholende Muster. Die eingeritzten Linien bilden Liniengruppen, Fischgrätmuster und rechteckige Netze. Wenn diese Muster nur zufällig aus dem Werkzeugschleifen hervorgegangen sein sollen, dann müssten die Neandertaler oder Cromagnon-Menschen beim Schleifen ihrer Steinwerkzeuge sehr intensiv an den Fischfang gedacht haben. Viele der Linienmuster befinden sich auch an der Höhlendecke, also hätten jene Menschen ihre Werkzeuge in umständlicher und kraftraubender Überkopfarbeit geschärft, obwohl es genug Felsfläche am Boden gab, wo dieselbe Arbeit viel bequemer hätte erledigt werden können. Und warum erscheinen die netzartigen Ritzzeichnungen auch auf Langknochen des gejagten Wildes? Ein Knochen taugt nicht zum Schleifstein. Die Erklärung der Inzissionen als bloße Klingenschleifspuren hält keiner genaueren Betrachtung stand. Die Netze sind wohl doch eher Zeichen mit einer Bedeutung. Marie König nennt sie Ideogramme, zeichnerischer Ausdruck einer Idee, einer Vorstellung. Diese Ideogramme finden sich in sehr unterschiedlichen Verwitterungsgraden, stammen also aus weit auseinanderliegenden Zeiten, und sie kehren dabei in ähnlichen Formen immer wieder. Es handelt sich also um eine Tradition, auch wenn uns der mündlich tradierte Erklärungstext dazu fehlt. Es gab Ideen, Vorstellungen, abstrakte Konzepte, die den Menschen so wichtig waren, dass sie von Generation zu Generation weitergegeben und weiterentwickelt wurden. Auch die runden Vertiefungen im Fels, die Näpfe und Schalen, sind in geometrischen Mustern angelegt. Sie sind also entweder ein ästhetisches Design oder sie tragen eine Bedeutung oder beides.

Sphäroide, Klopfsteine und Wurfgeschosse

Runde Formen, Annäherungen an die Idee der Kugel, findet Marie König in Felsköpfen, die anscheinend in jenen Kulthöhlen mit den vielen Ritzungen eine Bedeutung hatten. Diese Kugelformen gibt es auch konkav, also aus dem Inneren der Kugel gesehen. Dazu gehören die Näpfe und Kuhlen und ebenso die Höhlen selbst, wenn der Innenraum einigermaßen gleichmäßig, kugelig wirkt. Die konvexen Gegenstücke, die Kugelform von außen gesehen, sind jene Felsköpfe und ebenso der menschliche Schädel, der in den Schädelsetzungen offensichtlich mehr bedeutet, als nur den einzelnen Menschen, der ihn zu Lebzeiten getragen hat. Besonders interessant sind die Sphäroide, kugelförmige Steine, die Bearbeitungsspuren zeigen, aber anders als in der normalen Steinbearbeitung. Bei der normalen Werkzeugherstellung zielten die Bearbeitungen in aller Regel darauf, eine scharfe Kante zu erzeugen, denn Werkzeuge sollen schneiden, stechen, schaben. Wer aber bearbeitet einen Stein nur mit dem Ziel, ihm alle Kanten und Unregelmäßigkeiten zu nehmen, ihn runder, kugelförmiger zu machen? Und solche Sphäroide wurden an etlichen Ausgrabungstätten gefunden.

Marie König S.37: "der schon beobachtete Zusammenhang zwischen Kulthandlungen und dem Wasser zeichnet sich im Moustérien ab. M.Gruet machte in El Guettar bei Gaza in Nordafrika einen Depotfund. Er bestand aus einer Anhäufung von etwa 60 kugelförmig bearbeiteten Kalksteinen mit einem Durchmesser von 4-18 cm. Sie lagen 7 m unter dem heutigen Boden in der Nähe einer Quelle. Gruet sieht darin Opfergaben."

Marie König verweist auf Funde solcher Steinkugeln in ehemaligen Flußbetten (André Leroi-Gourhan, in den Höhlen von Arcy-sureCure, Departement Yonne) und auf eine Schädelsetzung/Sonderbestattung aus La Quina, Departement Charente, wo neben dem Schädel eine sorgfältig zurecht behauene Kugel aus Stein lag. Sie zitiert in diesem Zusammenhang Paul Wernert, der diese Kugeln als typische Kulturelemente der mittleren Steinzeit bezeichnet hat.

Kultobjekte lassen sich bestimmt auch anders erklären

Die Interpretation der Sphäroide als Kultobjekte blieb natürlich nicht unwidersprochen. Eine gängige Erklärung sagt, das seien einfach Klopfsteine, also eine Art steinerner Hammer zum Weichklopfen von Leder. So meinte man die Sphäroide in die Reihe der Werkzeugtypen einsortieren zu können, um ihnen keine andere Bedeutung zugestehen zu müssen. Oder man erklärt sie als Schleudersteine, sortierte sie also zu den Waffen. Beide Erklärungen bleiben schön brav im Pragmatischen. Die Steinzeitmenschen sollen gefälligst Überlebensvorteile suchen, dann ist die Wissenschaft zufrieden. Klopfsteine und Schleuderkugeln sind anscheinend unproblematisch, aber Ihr lieben Steinzeitmenschen, kommt bloß nicht auf weltbildartige Ideen, das gehört sich nicht für euresgleichen. Damit würdet ihr den untersuchenden Wissenschaftler in peinliche Erklärungsnotstände bringen. Klopfsteine sollen es also sein. Nun gibt es aber solche Sphäroide nicht nur aus Stein, sondern auch aus Löss. Die Steinzeitmenschen formten kugelförmige Gebilde aus Lehm. Als Klopfsteine waren diese Lehmkugeln sicher nicht zu gebrauchen und als Wurfgeschosse wären sie ebenfalls zu weich gewesen. In Achenheim, Elsaß wurden solche Löss-Sphäroide gefunden, die aus dem Acheuléen stammen. Dass diese Lösskugeln erhalten geblieben sind, lag an ihrer Versinterung im Boden. Derart gehärtet konnten sie in der ursprünglichen Anordnung unter 18 Meter hohen Deckschichten ausgegraben werden. Die Versinterung aber, diese natürliche Verhärtung, lag wohl nicht in der Macht oder Absicht der kugelformenden Steinzeitmenschen. Das war keine Herstellungsmethode für Klopfsteine oder Wurfgeschosse. Was bedeutete die Kugelform oder ungenauer gesagt die Rundform für die Menschen im Paläolithikum? Hat da ein paläolithischer Schamane vom Fußball geträumt? Oder ist es doch ein Weltbild, eine Ahnung vom Großen, Ganzen, Runden? Wurden die rundlichen Höhlenräume als Abbilder das großen Weltraums verstanden? Was dachten jene Menschen, wenn sie zum Himmel blickten?

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Lösskugeln , Achenheim, Grube Sundhauser-Ost, mittelpaläolithische Fundschicht (Loess ancien supérieur). Ausgestellt im Musée archéologique de Strasbourg. Vgl. Paul Wernert: Stratigraphie paléontologique et préhistorique des sédiments quaternaires d'Alsace, 1957. Tafel 18, No. 5, boules de limon pétries, trouvées ensemble. Loess ancien moyen atypique. Terrasse d'Achenheim. Photo von Thilo Parg / Wikimedia Commons, Lizenz:CC-BY-SA-4.0

Die Grotta Guattari

Marie König beschreibt die Funde in der Höhle Guattari. Da gibt es eine annähernd kreisförmige Steinsetzung mit einem Neandertaler-Schädel dessen Rundung als erstes sichtbar ist, wenn die Höhlenbesucher durch den einzigen Eingang hereingekrochen kommen. Betreibt Marie König da eine Idealisierung? So darf skeptisch gefragt werden. Die Fotos von der Höhle zeigen den Schädel "Circeo 1" schräg und verkehrt herum liegend auf den Steinen. Das mit der Rundung als erstem Anblick mag zwar stimmen, aber so ganz ordentlich aufgestellt war es nicht. Könnte die Anordnung nicht ein Zufall sein? Marie König folgt der Interpretation von Alberto Carlo Blanc und seinem Archäologenteam, das diese Stätte 1939 entdeckt hatte und darin ein prähistorisches Heiligtum erkannte. "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann". Das sagte kein Neandertaler sondern einer unserer Zeitgenossen, dessen Name mir gerade nicht einfallen will. Die Steinsetzung in der Grotta Guattari war auch rund, aber der Schädel lag nicht im Mittelpunkt des gedachten Kreises, sondern am Rand. Ein Erdrutsch hatte den Höhleneingang für Jahrtausende verschüttet. Die Fundstätte war deshalb unberührt geblieben bis zu jener Entdeckung im Jahre 1939. In den fünziger Jahren wurden die Ausgrabungen fortgeführt und brachten Mousterien Werkzeuge vom Typ Pontinien zutage. Dass hier Neandertaler zugange gewesen waren, scheint also sicher, aber haben sie wirklich das runde Knochending ihres verstorbenen Artgenossen verehrt? War der Schädel für sie ein Bild des Universums? War die Grotta Guattari ein Heiligtum?

Zwei spätere Forscher haben eine Nachuntersuchung der Höhle gemacht und sie beschreiben diese Funde als zufällige Hinterlassenschaft einer Hyänenmahlzeit. Die Kratzer auf den Knochen seien Biss-Spuren von Hyänen. Die neue Szenerie sieht so aus: Der ehemalige Wasserlauf in der Höhle hat die Steine in eine zufälligerweise kreisförmige Anordnung gespült. Der ehemalige Träger des Schädels, hatte sich zum Sterben in die Höhle zurückgezogen. Eine Tüpfelhyäne hat dann seine Leiche auseinandergerissen und abgenagt. Und alle Skeptiker lachen befreit auf. Kein Heiligtum, keine Schädelsetzung, kein Weltbild. Es war nur ein Aasfresser und die Laune der Natur. Auch hier darf skeptisch gefragt werden: Sind diese Forscher objektiv, sachlich, neutral? Oder hegen sie eine subjektive Abneigung gegen Religions- und Weltbild-Theorien? Und betreiben sie aus dieser Abneigung heraus eine abwiegelnde Interpretation der Funde? Immerhin basierte Marie Königs Beschreibung auf den Einschätzungen der ersten Ausgräber. Ginge es nur um die Grotta Guattari, wäre mit der Hyänentheorie alles gegessen. Die Mehrheit der Wissenschaftsgemeinde hegt immer noch Vorbehalte gegen Religions- und Weltbild-Theorien. Diese Vorbehalte entspringen nicht der Subjektivität einzelner Wissenschaftler, sondern sind eine objektive Drift des wissenschaftlichen Denkens. Die vielfältigen Erklärungsmöglichkeiten von archäologischen Funden (Hyänenmahlzeit, Wasserströmung, Kannibalenritual, Klingenschleifplatz, Weltbildtempel, Klopfsteine, Wurfgeschosse, Opferdarbringung, Schamanentanzplatz usw.) stehen nicht gleichwertig und neutral nebeneinander. Es ist keine freie und vorurteilslose Wahl, welche Erklärung von der Fundlage her am besten passt, sondern es gibt ein internes Gefälle im Denken der Wissenschaft. Je weltbildhafter, geistiger, religiöser eine Erklärung ist, desto eher wird sie gemieden. Erst wenn alle anderen, alle "natürlichen" Erklärungen sehr unbefriedigend sind, wird als letzter Ausweg in Betracht gezogen, den frühen Menschen ein Weltbild und/oder eine Religion zu unterstellen. Die Grotta Guattari wird also herausgenommen aus der Reihe paläolithischer Schädelsetzungen. Die aus Stein geschlagenen Sphäroide werden mithilfe von Klopfstein- und Wurfgeschoss-Theorien entschärft. Nur die versinterten Lösskugeln von Achenheim müssen in die Schublade der Peinlichkeiten weggeschlossen werden. Der Göttin der Wissenschaftlichkeit scheint das fiese Lachen jeder Hyäne erträglicher, als der Blick in den Spiegel.

Dürfen Neandertaler ein Weltbild haben?

Beide Positionen kann ich nachempfinden: Das wissenschaftliche Bedürfnis nach Nüchternheit sträubt sich natürlich zurecht gegen unüberprüfbare Spekulationen. Aber die von Marie König zusammengetragenen Fakten sprechen sehr deutlich für die Entstehung weltbildartiger Ideen schon in sehr frühen Zeiten der Kulturentwicklung. Wie können beide Seiten in einer freien und offenen Diskussion zusammengebracht werden?

Die vielleicht genialste Idee von Marie König besteht darin, dass sie die Entwicklung der Werkzeuge des Menschen parallel setzt zur Entwicklung seines Weltbildes. Wie aus den Werkzeugtypen eine Abfolge der Kulturepochen gelesen werden kann, so kann die Entwicklung weltbildartiger Ideen aus einfachsten Grundideen gedacht und diskutiert werden. Die nüchternen Entwicklungsprinzipien aus der Beurteilung der Werkzeugherstellung erlösen die Weltbilddiskussion von manchen hochgestochenen Erwartungen.

Die ältesten Werkzeuge waren Allzwecktypen. Sie waren für alle Arten des "Werkens" verwendbar. Alle späteren Spezialisierungen wurden aus dieser primären Idee "Werkzeug" abgeleitet. Die unterschiedlichsten Typen von Klingen, Schabern, Nadeln usw. zeigen die geistige Entwicklung der Grundidee "Werkzeug". Die Grundidee war sehr einfach und sehr genial. Alle folgenden Entwicklungen sind Auffiederungen der Grundidee. Die Altsteinzeit wird anhand der in der jeweiligen Schicht ausgegrabenen Werkzeugtypen in Kulturstufen eingeteilt, aber alle Spezialtypen bleiben dem Grundbegriff verbunden. Sie bleiben Werkzeuge.

"Zur instrumentellen Tätigkeit gehörte mit steigender Prägnanz begrifflichen Denkens entweder ein Schaber oder ein Messer...- und doch blieb man immer am Werken. Die geistige Differenzierung erforderte genauere, engere Begriffe, um zu erfassen, was vorher in einem einzigen, umfassenden Begriff zusammengefasst war." so beschreibt Marie König (S.28) die Entwicklungsrichtung. Aber die Rückverfolgung zu den ältesten Werkzeugen muss den umgekehrten Weg gehen. Sie muss nach dem einfachsten aller Werkzeuge suchen.

Die Erfindung neuer Werkzeugtypen bildet einerseits neue Kulturstufen und führt andererseits die Traditionen des Grundbegriffs und der übernommenen Begriffe vorheriger Kulturstufen weiter. Der umfassende Begriff ist seiner Natur gemäß ungenau. Die ursprünglichsten Werkzeuge können nicht als Schaber oder Messer differenziert werden, sondern sind eben nur "Werkzeug".

Ähnlich wie die Werkzeugentwicklung denkt Marie König die Entstehung und Ausdifferenzierung des Weltbildes. In der Diskussion um ein Weltbild der Steinzeitmenschen dürfen die erkennbaren Spuren dieses Weltbildes nicht durch zu große Differenzierungsansprüche späterer Weltbilder überfordert werden. Die frühen Weltbilder bestanden vielleicht nur in der Idee, dass es ein großes Ganzes ist, in dem wir leben. Es darf dem frühen Menschen unterstellt werden, nicht nur einzelne Gegenstände und einzelne Lebewesen wahrgenommen zu haben, sondern seine Umwelt als Ganzes. Wie schwer ist es, auf die Idee zu kommen: Das alles ist ein Ganzes, ein "All", eine "Welt". Dabei sind Begriffe wie "All" und "Welt" schon Anachronismen, weil sie belastet sind mit den Differenzierungen späterer Zeiten. Ein sehr allgemeiner, sehr umfassender und vielleicht auch sehr ungenauer Begriff von "Welt" könnte und müsste der Anfang der menschlichen "Weltbildung" oder "Weltbilderei" gewesen sein. Diese Idee würde zu den Rundformen passen und könnte in ihnen tradiert worden sein. Konkav und Konvex sind schon Unterscheidungen, bilden schon Weiterentwicklungen des großen Runden. Wo in dieses große Runde eine Richtung hineingedacht wird, z.B. "Richtung Sonnenaufgang" geht es noch einen Schritt weiter. Mit der Vorstellung einer Richtung entsteht eine Linie. Der Begriff "Sonnenaufgang" ist schon wieder zu "genau". Eine Linie ist etwas abstraktes, etwas nicht-gegenständliches, aber mit der Ausrichtung ihrer Bestattungen in eine Himmelsrichtung zeigen Neandertaler, dass sie in solchen Linien denken können. Das ist nichts Außerirdisches. Bei jedem Vordringen in ein neues Jagd- und Sammel-Revier ist eine Orientierung nötig, ein Bewusstsein von Richtung. Aus welcher Richtung sind wir gekommen? Die Idee "Sonnenaufgang und Untergang", "Ost und West", braucht keine Berechnung der elliptischen Planetenbahnen, kein Spiegelteleskop und keine Wissenschaft. Da muss nur ein Hominide den Blick nach oben wenden. Die Erkenntnis der ersten grundlegenden Himmelsrichtung braucht nur einen etwas weiteren Horizont. Anstelle der Orientierung am nächsten Berg könnte die Orientierung am Himmel erfolgen. Und diese Orientierung am Himmel funktioniert überall, auch wenn unser Hausberg mal außer Sichtweite kommt. Ost und West, Aufgang und Untergang sind in die ganze Welt "eingezeichnet", sind überall vorhanden. Der Himmel überspannt alle Berge und Täler. Der Lauf von Sonne und Mond bildet die abstrakte Linie über die ganze Welt. Das zu bemerken kann eine Entdeckung gewesen sein, so vermutet Marie König, oder es war ein allmähliches Heraufdämmern. Eine Linie in das große Runde zu zeichnen, kann dem Erfinder, der Erfinderin, schon einen Schauer der Erkenntnis über den Rücken jagen. Dabei ist es nur ein minimales Ideogramm, ein kleines Zeichen, das an die nächste Generation weitergegeben wird, in Gesten und Worten, später als Zeichen, als Felsgravur, als Weltbild. Und wenn aus der Linie durch eine zweite Linie quer zur ersten ein Kreuz gemacht wird, dann sieht es aus wie die Ritzzeichnungen von Kreuzen in den Felsen der Île de France.

Mit der Ost-West-Linie war die Welt zugleich in zwei Hälften geteilt worden, die nördliche und die südliche. Das so tradierte Weltbild ist Anlass zu weiteren Differenzierungen. Oder sind die zwei Halbschalen zuerst nicht als nördliche Hälfte - südliche Hälfte, sondern eher als oben und unten, Himmel und Erde gedacht? Dann wäre die kreuzende Linie nicht die Nord-Süd-Achse, sondern es wäre die Senkrechte, die Himmel und Erde verbindende, unsichtbare Linie. Die Senkrechte ist die Bewegungslinie der Regentropfen und aller anderen fallenden Gegenstände und gleichzeitig die Aufwärtslinie der Baumstämme. Die Fragen mit denen Marie König an die Felsritzungen herangeht, sind keine willkürliche Spekulation, sondern es ist der notwendige, intelligente und feinfühlige Versuch zu verstehen, was jene frühen Menschen bei ihren Ritzmustern, Lehmkugeln und Schädelsetzungen gedacht haben. Wenn dieser Versuch manchen strikt materialistischen Wissenschaftlern unangenehm ist, liegt das vielleicht an der Verklemmtheit ihres je eigenen Weltbildes.

Über Marie König hinaus könnte angeführt werden, dass dieses Denken in Richtungen auch schon im Körperbau angelegt ist. Wir haben in unserem Körper das "Vorne und Hinten". In der Ausrichtung unserer Sinne und unserer Bewegungsorgane liegt also schon eine Richtung. Wir haben senkrecht dazu die andere Richtung "Oben und Unten", Liegen und Stehen. Diese Senkrechte spüren wir in unserer Wirbelsäule und in den Erfahrungen der Schwerkraft. Wir haben quer dazu "rechts und links", angezeigt in der Symmetrie unseres Körpers. Von Kopf bis Fuß leben wir in Richtungen, in Polaritäten. Die abstrakten Linien eines dreidimensionalen Kreuzes sind uns in unseren Körpern gegeben. Solche Binsenwahrheiten werden nur selten in Worte gefasst, sondern eher in eine Zeichnung, in ein Zeichen, in ein Ideogramm. Die in den Himmel projezierten Weltbilder sind zugleich Bilder unseres menschlichen Körpers. Die Orientierungen in der Welt sind zugleich Orientierungen in uns selbst.

Marie König's Theorie mag in Konkurrenz stehen zu anderen Theorien, die die frühesten Symbolbildungen an einzelnen Vorgängen festmachen wollen. Aber es spricht doch einiges dafür, dass die Idee von der Welt als einem großem Ganzen, eine mächtige Erkenntnis war, die von ihren "Erfindern" auch als etwas Großes und Wichtiges empfunden wurde. Guck mal das Ganze an. Der Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume. Die Weite des Himmels ist mehr als Wolken, Sonne, Mond und Sterne. Nimm alles zusammen. Die Wasser sind mehr als alle Flüsse und Seen und Meereswellen. Das alles zusammen genommen ist "die Welt" und wir sind ein Teil von ihr. Sobald diese Idee da ist und weitergegeben wird, entstehen Fragen und Differenzierungen. Die von Menschen gemachten Sphäroide, Felsnäpfe und Steinritzungen würden Sinn machen in diesem Zusammenhang. Man muss nur bereit sein anzunehmen, dass die Menschen ihre Intelligenz nicht ausschließlich auf die Entwicklung praktischer Werkzeuge verwendet haben, sondern neben Futtersuche und Fortpflanzung noch ein paar Synapsen frei hatten, um auf andere Gedanken zu kommen.

Marie E.P. König wurde jahrzehntelang von der Wissenschaft still bewundert, aber peinlich gemieden. Ihre Theorien offen zu diskutieren, ist für etablierte oder etablierungswillige Wissenschaftler*innen noch immer riskant. Dennoch sickern ihre Erkenntnisse immer mehr ins allgemeine Bewusstsein.

Neue Ausgrabungen können die Skala der zeitlichen Einordnungen verschieben, dennoch bliebe ein Großteil von Marie König's Theorien gültig. Ob manche Ideogramme schon im Mousterien nachgewiesen werden oder erst mesolithisch sind, ändert wenig an ihrer inhaltlichen Zuordnung zum Traditionsstrang der Weltbildentwicklung. Auch wenn es manchen Wissenschaftlern spürbar unangenehm ist, schieben sich doch die Anfänge der menschlichen Symbolbildung in immer tiefere Schichten der Vergangenheit. Die Objektivitäts­dogmatiker bekommen eine Lektion in Hermeneutik, in der Kunst des Verstehens. Da geht es nicht um's Beweisen, also um das Erzwingen von Zustimmung, sondern um freiwilliges Erkunden der Denkmöglichkeiten. Marie König's Art zu diskutieren ist sanft und bedächtig. Das hebt sie angenehm ab von vielen anderen Stilen. Selbst noch Jahrzehnte nach dem ersten Erscheinen ihres Buches, steht es wie ein Fels in der Brandung.

Das Menschlein war nie nur pragmatisch. Das Denken unserer Spezies beschränkte sich nie auf unmittelbare Überlebensvorteile. Von hundert Homos hat mindestens eine*r gelegentlich eine Idee. Meistens dürfte es eine dumme Idee sein. Die neunundneunzig anderen dürfen darüber lachen und das tun, was sie schon immer getan haben, aber Eine*r läuft immer neben der Kappe und längerfristig liegt darin das Potential für das Neue. Kurzfristig nutzbringende Erfindungen sind vielleicht nur das versehentliche Nebenprodukt eines viel weiträumiger streunenden Denkens. Praktische Intelligenz ist nur der Bodensatz aus der grundsätzlichen Verrücktheit unserer Gattung.

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bemalter Rundstein aus der Cueva del Valle, Rasines/Cantabria, Kultur: Aziliense, jetzt im Museo Arqueologico Nacional, Photo von Dorieo, Wikimedia, Lizenz: CC-BY-SA-4.0 int.

Marie Koenig



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Die hermeneutische Denkweise ist die Kunst des Verstehens und die Methode der Geisteswissenschaften.
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