Befruchtet vom Neandertaler, die Wirkung der anderen Art auf das Aurignacien / Teil 3 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2019mrz28
Als Grenze zwischen den beiden Menschenarten wurden bei den Ausgrabungen zwei an ihren Werkzeugen erkennbare Kulturen herausgearbeitet: Das Chatelperronien als neandertalisch und das Aurignacien als sapiens-zugehörig. Alles was Symbolbildung, Ästhetik und vielleicht sogar einen Hauch von Religion enthalten konnte, also über den Zweck des puren Überlebens hinaus ging, wurde dem Sapiens zugeordnet.
Die wichtige Kultur-Epoche des Aurignacien geriet in den letzten Jahrzehnten der Forschung in die Zone der Grenzkonflikte. Zum Aurignacien gehören zum Beispiel die ältesten Höhlenmalereien in der Chauvet-Höhle (Département Ardèche) und die in Mammut-Elfenbein geschnitzten Tierfigürchen aus der Vogelherdhöhle auf der schwäbischen Alb und insbesondere die Löwenmensch-Figurine aus der Stadel-Höhle im Hohlenstein. Vielleicht sogar noch wichtiger ist die älteste bildhauerische Darstellung eines menschlichen Körpers überhaupt, nämlich die Venus vom Hohlefels. Nicht nur die bildenden Künste sind betroffen. Praktisch die komplette Musik des Paläolithikums könnte neandertalisch gewesen sein: Die aus Vogelknochen hergestellten Flöten der Schwäbischen Alb, aus der Vogelherdhöhle und aus dem Geissenklösterle schienen mit einem Alter von 35 bis 43 Tausend Jahren gerade noch in einer Zeit zu liegen, in der wohl schon Sapiens in Europa angekommen waren, aber in der Divje-babe-Höhle in Slowenien wurde ein noch älteres Musikinstrument gefunden: Eine Flöte, die auf ein Alter von 45.000 bis 60.000 Jahre geschätzt wird, also doch wohl von Neandertalern geschnitzt und gespielt worden war. Wenn das stimmen sollte, dann gerieten auch die schwäbischen Flöten verstärkt unter Neandertaler-Verdacht.
Wenn all diese Kultur-Produkte des Aurignacien vom Neandertaler produziert worden sein könnten, dann stünde unser Sapiens-Stamm als ziemlich kulturlose Bande von Plagiatoren dort in der Eiszeit und sogar das Zusammennähen von Fellen, mitsamt den zugehörigen Erfindungen von Nadel und Faden wäre nicht "unser" geistiges Eigentum, sondern nur abgekupferte Fähigkeiten, paläolithische Industriespionage. Wir müssten dann froh sein um die knapp 4% unseres genetischen Kulturmenschenanteils und die übrigen 96% unseres Genoms wären die DNA der zugewanderten Diebe- und Gauner-Gattung, die sich selbst hochstaplerisch als "Sapiens-sapiens" bezeichnet. Das ist jetzt ein bißchen karikiert, aber nur ein bißchen. In diese Richtung geht doch die Angst?
Dabei hatte man früher dem Neandertaler noch nicht einmal die Sprachfähigkeit zugetraut, erst der Fund eines Zungenbeins im Neandertaler-Skelett der Kebara-Höhle in Israel hat 1983 mit dieser Herabwürdigung Schluss gemacht. Ohne dieses Zungenbein hätte er sich mit tierischen Grunzlauten verständigen müssen, so war der Stand der älteren Theorien. Da wären die Neandertaler also sprachlos grunzend durch die Eiszeit und durch Europa gelaufen, während in derselben Epoche und in denselben Höhlen das stolze Menschengeschlecht in einem großartigen Anfall von Schaffenskraft alle Arten von hochrangigen Kunstwerken an die Wand geworfen hat. Die gigantischen Erfindungen von Malerei und Bildhauerei und Instrumentalmusik waren ausschließlich Menschensache. So meinte lange die Wissenschaft des Homo sapiens sapiens.