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Küstermann




Schriftzug Kirche

Familienreligion und auffallende Bibelstellen

Wie steht das Christentum zu Familie, Verwandtschaft, Abstammung und Nation? Traditionell gilt das Christentum als Familienreligion, zuständig für den Schutz des verwandtschaftlichen Zusammenhalts und für die Aufrechterhaltung einer ordentlichen Sexualmoral. Unsere Religion wird oder wurde auch von vielen Völkern als Bündnispartnerin für ihr Nationalbewusstsein gesehen. Nicht nur von außen wird das so wahrgenommen, sondern die Kirchen selbst fühlen sich in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen oft zur Verteidigung familiärer Werte berufen.

Die scheinbar selbstverständliche Familienfreundlichkeit des Christentums wird tief infrage gestellt, sobald wir unvoreingenommen und ohne Abwehrhaltung die neutestamentlichen Aussagen zu Familie, Verwandtschaft und Nation lesen. Die zitierten Bibeltexte (siehe Blatt 01) lösen in der traditionellen christlichen Auslegung fast automatisch familienverteidigende Erklärungen aus. Es lohnt sich, diesen Drang zum familienfreundlichen Zurechterklären der Texte einen Augenblick zurückzuhalten. Die - fast müsste man sagen - "Familienfeindlichkeit" steht ja nicht umsonst in den Bibeltexten. Nur wird ihr Sinn verdeckt durch die weitverbreitete Unkenntnis des religionsgeschichtlichen Zusammenhangs.

Muten wir uns nämlich diese geradezu empörend familien-kritische Einstellung des frühen Christentums zu, dann kommen wir auf die Spur einer Besonderheit, die das Christentum einzigartig macht gegenüber den traditionellen heidnischen Religionen. Beide Eigenschaften gemeinsam, nämlich die wohlvertraute Fähigkeit Familienreligion zu sein, kombiniert mit der fremdartig wirkenden Familienkritik, bildeten das Potential, mit dem sich das Christentum in seinen ersten dreihundert Jahren als neue Weltreligion durchsetzte. Nur wenn beide Eigenschaften wahrgenommen werden, wird sowohl der Weg des Christentums als auch die Dynamik der Religionsentwicklung in der antiken Welt verständlich. Jene fremdartige "Familienfeindlichkeit" des Christentums war gleichzeitig seine Beziehung zu den längst untergegangenen, in der Spätantike aber sehr aktiven und attraktiven Mysterienreligionen. Das Christentum stand im Konkurrenzkampf mit diesen ungewöhnlichen und relativ jungen Religionen und es setzte sich schließlich gegen alle anderen Mysterienkulte durch. Ein wichtiger Konkurrenzvorteil bestand darin, dass im Christentum Frauen und Kinder getauft werden durften. Da begegnen sich dann Familienfreundlichkeit und Familienfeindlichkeit. Dieses Verhältnis zu den Mysterienreligionen muss genauer erklärt werden.

Die beiden scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften des Christentums machen letztendlich guten Sinn, aber um diesen zu verstehen, müssen wir uns der Härte der Bibeltexte stellen und alle relativierenden Auslegungstendenzen erstmal beiseite lassen.

Konflikte in der Familie

In Matthäus 10, 34-39 wird keine Besänftigungsstrategie gegen Familienkonflikte geboten, keine Anweisung für bessere Harmonie gegeben. Die Verbindung zu Jesus wird eher als erhöhtes Konfliktpotential gesehen und sie wird für wichtiger gehalten, als die Verbundenheit in den engsten Familienbeziehungen.

Die religiöse Bedeutung der Ehe

Im Streitgespräch zwischen Jesus und den Sadduzäern (nach Markus 12,18-27) wird die Ehe als eine zeitliche und weltliche Verbindung zweier Menschen gesehen, ohne religiöse Überhöhung, ohne Ewigkeitswert.

Jesus im Konflikt mit seiner Mutter

Seine Familie meint, er wäre "von Sinnen", also wahnsinnig geworden (Markus 3, 21). Sie wollen ihn zurückholen nach Hause (Markus 3, 31ff). Es gab keine psychiatrischen Kliniken. Die Familie war verantwortlich dafür, ein nicht mehr zurechnungsfähiges Mitglied unter sichere Verwahrung zu nehmen. Wie mag sich dieses Familienunternehmen angefühlt haben für den jungen Wanderprediger? Die hielten ihn für verrückt und wollten ihn einsperren. Mit seiner Frage: "Wer ist meine Mutter?" verleugnet er die, die ihn geboren hat. Wie mag sich dieses Verhalten ihres Sohnes angefühlt haben für Maria?

Nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters

Trauerriten für verstorbene Familienangehörige gehören zu den selbstverständlichsten Ausdrucksformen familiärer Verbundenheit. Die Zurückweisung dieser Trauerriten durch Jesus in Matthäus 8,21+22 erscheint schroff und unverständlich.

Aufhebung der nationalen, kulturellen und gesellschaftlichen Zugehörigkeit

Das Getauftsein durch einen Geist zu einem Leib, hebt alle bisherigen Identifizierungen aus den Angeln. Dieses Thema taucht einige Male im Neuen Testament auf (zum Beispiel Galater 3, 26-29 und 1.Korinther 12, 12+13). Die Abstammung ist nicht mehr entscheidend. Diese Internationalität scheint für die entstehende Religion etwas Neues und Aufregendes zu sein. Die Christen überschreiten die Grenzen der Abstammung und gehören nun zu einer neuen "Familie", sie sind jetzt Schwestern und Brüder in Christus. Das ist die positive Seite, um die es letztlich geht.

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