Die Menschenwürde über die Königswürde zu setzen, ist die zentrale Absicht der biblischen Schöpfungserzählung. Was ist der Mensch? Ebenbild Gottes! Mit dem Begriff vom Ebenbild Gottes werden die Machtmittel der altorientalischen Königsideologie in doppelter Weise umfunktioniert.
Erstens: Die göttliche Legitimation des Königs wird übertragen auf den Menschen. Nicht mehr der König ist Ebenbild Gottes, sondern der Mensch.
Und zweitens: Die Säulen des Königs, seine Ebenbilder als Herrschaftszeichen werden entwertet, indem jeder Mensch als Säule Gottes, als Gottes Ebenbild und als Herrschaftszeichen Gottes proklamiert wird.
Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei,
die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel
und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.
Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.
Erstes Buch Mose, Kapitel 1, Verse 26 und 27
Was bedeutet nun aber: "Nach dem Bilde Gottes"? Man hat herausgefunden, dass diese Formel aus der Königsideologie des Vorderen Orient stammt. So etwa wurden in Mesopotamien und in Ägypten die Könige als »Ebenbild Gottes« bezeichnet. Ihre Gottebenbildlichkeit meinte konkret: Stellvertretung! Könige galten als Stellvertreter Gottes auf Erden. Hier, in unserer Erzählung, passiert nun plötzlich aber etwas Erstaunliches, Aufregendes: nicht Könige sollen Gottes Stellvertreter sein, sondern Menschen, die Menschheit insgesamt! Die altorientalische Königsideologie wird also aus den Angeln gehoben. Dem Menschen, allen Menschen, werden Rechte zugeschrieben, wie sie bisher nur Könige hatten! Überraschenderweise entpuppt sich also unsere Schöpfungserzählung als ein frühes, vielleicht das früheste demokratische Manifest! Nicht einzelne Auserwählte oder Begünstigte sind königliche Ebenbilder und Stellvertreter Gottes, sondern alle sind es, die Menschheit, die Menschenfamilie insgesamt! Allen werden von Gott die königlichen Rechte und Pflichten der Gottesebenbildlichkeit, der Stellvertretung Gottes, zuerkannt! An die Stelle der hierarchischen Stufung von König, Adel, Untertanen tritt die kooperative Gemeinschaft von Mann und Frau: nach seinem Bilde schuf Gott den Menschen, »als Mann und Frau schuf er sie«. Jeder ein König, jede eine Königin! Gesellschaftliche Strukturen, welche Menschen zu Untertanen und Befehlsempfängern degradieren, widersprechen dem Willen des Schöpfers.
aus Kurt Marti: Schöpfungsglaube. Die Ökologie Gottes, Stuttgart 1983, S. 59f.
Foto: Oberer Teil der Stele des Herrschers Hamurapi I, Babylonien, Version Louvre P1050763_Louvre_code_Hammurabi_face_rwk_Louvre: 010174436_Licence-GNU-GPL_Mbzt_wikimedia
Vorderorientalische Königsideologie:
Gott erschafft den König als Ebenbild Gottes
Biblische Schöpfungsgeschichte:
Gott erschafft die Menschen als Ebenbild Gottes
Noch stärker wird diese biblische Grundlegung der Menschenwürde, wenn die Bildsäulen als Repräsentanten des Herrschers mitgedacht werden. In der Tabelle unten sind die beiden Parts für die vorderorientalische Königsideologie bereits ausgefüllt. Was gehört in die beiden Felder für die biblische Schöpfungsgeschichte?
Wer herrscht? | Repräsentiert durch welches Ebenbild? |
Der König | Seine Bildsäule |
...............? |
...............? |