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Küstermann


menue-symbol  1 Ebenbild Gottes - 2 Ebenbild Gottes - 3 Ebenbild Gottes - 4 Frühgeburt - 5 Ich - 6 simul iustus et peccator - 7 Sigmund - 8 Freud - 9 Weiteres Material -


Foto Menschenbaby im Tragetuch schlafend

Der Mensch ist eine „physiologische Frühgeburt“

Im Unterschied zu anderen höheren Säugetieren kommt der Mensch ziemlich unfertig auf die Welt. Während ein Fohlen schon in den ersten Lebensstunden aufsteht und staksig zu gehen versucht, ist das kleine Menschlein noch über viele Monate hinweg äußerst hilflos und auf völlige Versorgung angewiesen und das ist nicht nur bei den Gehwerkzeugen so. Fast alle Säugetiere haben bald nach der Geburt die notwendigen Fähigkeiten, die sie für ihr Leben benötigen. Nach der Geburt sinkt die Geschwindigkeit ihrer weiteren Reifung bei den anderen Tieren rapide ab. Sie sind festgelegt auf das, was sie im Mutterleib wurden.

Für den Menschen hingegen sind im ersten Lebensjahr die Bezugspersonen, also die menschliche Gesellschaft, so etwas wie ein zweiter, sozio-kultureller Mutterschoß. Der Mensch ist darauf angelegt, unfertig auf die Welt zu kommen und ist damit eine "physiologische Frühgeburt". Die Umgebung, die Familie, das erste Lebensumfeld bekommen einen erheblich tiefergehenden Einfluss auf die Entwicklung des kleinen Menschleins, als dies bei Tierkindern der Fall ist. Dieses Zu-früh-geboren-werden ist physiologisch notwendig, unter anderem weil der große Schädel des Menschenbabys in ausgereiftem Zustand nicht mehr durch den Geburtskanal passen würde. Der Zeitpunkt der menschlichen Geburt ist sozusagen ein biologischer Kompromis zwischen dem, was unbedingt an Ausreifung nötig ist, und dem was gerade noch durch die Geburtsöffnung passt.

Foto Pferdefohlen stehend neben der Mutter

Das kleine Lebewesen müsste eigentlich noch fast ein Jahr lang gegen äußere Eindrücke geschützt sein durch Fruchtwasser, Fruchtblase, Uterus und durch die Körperhülle der Mutter. Durch das "zu früh" geboren sein, ist es in seiner Anfangszeit höchst empfänglich für alle Arten von Eindrücken. Adolf Portmann* prägte dafür den Begriff „extra-uterines Frühjahr“. In dieser Zeit geht die Reifung des kleinen Menschen mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.

* Adolf Portmann, geboren am 27. Mai 1897 in Basel; † 28. Juni 1982 in Binningen, ein Schweizer Biologe, Zoologe, Anthropologe und Naturphilosoph

Fotos von Annie Spratt (Mensch), Soledad Lorieto (Pferde) und Zak Ch (Affen)


Foto Affenbaby sich festklammernd im Fell seiner Mutter

Der Säugling kann sich zunächst nicht einmal richtig an seiner Mutter festklammern, wie manche Affenarten es tun, sondern braucht Tragetücher und ähnliche Hilfsmittel, damit die Mutter wenigstens ein bisschen ihre Hände frei hat, aber spätestens beim Sprechenlernen überholt der kleine Homo sapiens die zum Vergleich herangezogenen Affenjungen. Das Menschenkind besitzt im Vergleich zu anderen Tieren relativ wenige angeborene Verhaltensmuster (=Instinkte). Er kommt als unfertiges, unspezialisiertes Lebewesen auf die Welt und muss die arteigenen Verhaltensweisen (aufrechter Gang, Sprache, Bindungsfähigkeit) in den ersten Lebensjahren erst erlernen. "Weltoffen" statt "instinktgesteuert" heißen die Schlagworte.

Ein großer Teil seines Wesens wird ihm nicht von der "Natur" mitgegeben, sondern erwächst ihm aus der "Kultur", also aus dem Umgang mit seinen Mitmenschen. Damit ist der Mensch nur zu einem vergleichsweise geringen Teil "instinktgesteuert", stattdessen entsteht sozusagen eine zweite, soziokulturelle Steuerungsinstanz, für die er in seiner weiteren Beteiligung am sozialen und kulturellen Leben mitverantwortlich werden kann.

Der Mensch ist "weltoffen", er ist höchst flexibel und vielseitig in seinen Entwicklungsmöglichkeiten. Diese große Freiheit der Selbstgestaltung und Selbstbestimmung ist aber weniger dem einzelnen, individuellen Menschen gegeben, sondern eher einer Kultur und Gesellschaft als ganzer. Die Bezugspersonen des ersten Lebensjahres geben durch ihr Verhalten, zum Beispiel durch die Sprache, die Nahrung, die Mimik, die Gestik, die Vielfalt der mitgeteilten Eindrücke, dem Kind eine quasi Mutterschoß artige Versorgung des Geistes und der Seele.

Frage: Falls der Mensch das einzige religiöse Tier wäre, wie könnte das zusammenhängen mit seiner einzigartigen „Unfertigkeit“? Beschreiben Sie Religion als eine Folge dieser speziellen, menschlichen Verhältnisse.