Einige Denkweisen, die in der Neuzeit eine Rolle spielten und noch spielen, sollen hier angerissen werden, um Zugänge oder vielleicht sogar einen Überblick zu schaffen. / Teil 2 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 14.Okt.2022
»»» zur Denkweisen Liste
»»» zur hermeneutischen Denkweise
Eine andere Kultur zu verstehen und die Menschen in ihr zu verstehen, geht nur mit Kulturrelativismus. Die zukünftige, heilsame, den Menschen und dem Planeten wohltuende Kultur aber zu schaffen, geht nur mit Kritik an jeder bisherigen und an jeder bestehenden Kultur. Kulturrelativismus und Kulturkritik sind keineswegs einander ausschließende Alternativen. Im Verstehensvorgang muss die eigene Kultur relativiert, das heißt die Bedingtheit ihrer Werte wahrgenommen werden. Einen Kulturumbruch oder ein Aufeinandertreffen zweier Kulturen zu verstehen, erfordert sogar mehrfache Relativierungen. Das Verstehen ersetzt aber nicht die Diskussion über die weitere Entwicklung, sondern qualifiziert diese. Wenn du Freiheit als etwas Gutes erlebt hast und in einer freien Gesellschaft leben willst, musst du Partei ergreifen für Mose und gegen die Pharaonen. Du musst Passa feiern mit den Juden gegen die Sklavenhaltereien der Griechen, Römer und aller anderen antiken Großreiche. Nicht dass die Freiheit außerhalb und über allen Kulturen stünde, wird damit behauptet, nicht absolute Werte seien zu konstatieren mit welcher Begründung auch immer, sondern das Emporwachsen der Freiheit wird beobachtet, verstanden und unterstützt. Menschenrechte gibt es nicht als etwas von vornherein Allgemeingültiges, sondern sie wurden von bestimmten Kulturentwicklungen hervorgebracht. Sie existieren nicht als Unhinterfragbares, sondern als etwas Diskussionswürdiges. Sie gelten nicht durch Macht und Autorität, sondern durch Erleben und Erfahrung.
Die angebliche Unhinterfragbarkeit eines jeden Bedeutungsgewebes gehört zum Machtgehabe seiner jeweiligen Priesterschaft. Auch die philosophischen Werte der Kolonialgesellschaften legen dieses Machtgebaren an den Tag. Nicht nur die sogenannten missionierenden Religionen, Christentum und Islam, tragen in sich den Anspruch das universale Bedeutungsgewebe zu sein, auch die Philosophie der Aufklärung erhob einen mittlerweile durchschaubaren Universalanspruch. Besonders die Aufdeckung von rassistischen Zügen bei vielen dieser Philosophen, hat diesen Anspruch unglaubwürdig gemacht. Werden die Menschenrechte nur von der aufklärerischen Philosophie begründet, stehen sie auf sumpfigem Grund.
Wenn es nichts Unhinterfragbares gibt, bedeutet das noch lange nicht Beliebigkeit und Belanglosigkeit der Diskussion. Menschen können über die Menschenrechte streiten und sie können für die Menschenrechte streiten, sie können für die Menschenrechte missionieren, sie können auch für unterschiedliche Begründungen der Menschenrechte missionieren. Weiterentwicklung der Kulturen ist möglich und Menschen können voneinander lernen. Kulturen können von anderen Kulturen lernen. Bedeutungsgewebe durchdringen einander, korrigieren einander, verhelfen einander zu besserem Selbstverständnis. Zorastrismus und Judentum, Islam und griechische Philosophie, Druidentum und Christentum (nur als Beispiele) haben einander durchdrungen und aneinander gelernt.
Auch die Wissenschaft ist so ein wirklichkeitsbestimmendes Bedeutungsgewebe, ist eine missionierende Religion, nur haben viele diese beunruhigende Tragweite des Kulturrelativismus noch nicht begriffen. Die Begründungszusammenhänge liegen immer innerhalb jeden Bedeutungsgewebes. Die Begegnung mit dem Außen ist immer eine Infragestellung, ein Riss im Gewebe. Die Frage ist, wie werden die Fäden nach außen geschlagen? Wie haben die Bedeutungsgewebe bisher missioniert? Wie dürfen, sollen, können sie in Zukunft missionieren? Kulturrelativismus ist eine Qualifikation der Verstehensarbeit, keine Entwertung der moralischen Leidenschaft.
Bei allen Kulturbegegnungen, also auch bei Missionierungen, kann es zu logischen Inkonsistenzen kommen. Diese gehören zum Leben und zum Leiden. Die Logik ist kulturbedingt, also keine außerhalb der Kultur stehende Basis. Die Pflege eines harmonisierten logischen Zusammenhangs ist nicht immer der Weg zum Guten, eher im Gegenteil: Die logischen, philosophischen, durchdachten Ordnungen sind immer auch die Denk-Cocons der bestehenden Gesellschaftsordnungen und deren Abpolsterung gegen Kritik. Logik steht meistens auf seiten der Herrschaft. Nur die upper class hat die Zeit und die Zwanghaftigkeit für die Pflege ihrer alles umfassenden Denkvorschriften. Logik ist "...eine Biedermeier Libelle mit beiden Flügeln an der Hosennaht". Von wem stammt doch gleich die Poesie?
Den altägyptischen Priesterschaften war Mose ein Dorn im Auge, ebenso den griechischen und römischen Klassikern. Aristoteles stand auf Seiten der Sklavenhalter. Seine Ethik war gedacht für seine drei Arten menschlicher Beziehung: Der Ehemann muss herrschen über seine Frau, der Vater muss herrschen über seinen Sohn, der Hausherr muss herrschen über seine Sklaven. Auf diesem dreifach despotischen Aristoteles werden Philosophie und Rechtswesen aufgebaut. Tacitus war entsetzt über die Juden, "das schlimmste aller Völker, die zu dienen gehabt hätten". Noch deutlicher hätte er es nicht sagen dürfen, was so schlimm war an den Juden, nämlich dass sie ausgebüchst waren und das auch noch zu feiern wagten. Ausbruch aus der Sklaverei war ein Verbrechen in der Logik der klassischen Bildung und Philosophie.
Den Kardinälen im 16. Jahrhundert war die neue Gnaden-Logik des Martin Luther ein Greuel. Luther, wo er gut war, war anti-hierarchisch, nicht das mystische Mittelalter, sondern die modernen Renaissance-Päpste waren seine Lieblingsfeinde. Bis ins 20. Jahrhundert wurden nativistische Bewegungen misstrauisch beäugt, Cargo-Kulte wurden verlacht von den Wissenschaften der Kolonialmächte. Die Zuckungen und Ohnmachtsanfälle der Eingeborenen im kolonisierten Sibirien wurde von den russischen Ärzten als Krankheit diffamiert und wegoperiert. Die Zuckungen und Verzückungen sind aber das Wertvolle, sind die Randerscheinungen des Gehirns, wenn es an seine Grenzen kommt. Die Schamanen trommelten und tanzten sich hinaus über die Grenzen der Realität, gingen hinaus auf Geistereise. Damit wurde das Außen, der Rand, das Unverstandene in die Mitte der Gemeinschaft geholt. Das war ihre Qualität. Die notwendige Kritik entsteht eher an den Rändern, erscheint bei den Benachteiligten und die meiste Kritik kommt ungeordnet, irrational, unfertig daher, zumindest aus der Sicht der jeweils vorherrschenden Logik. Wo die Augen flimmern und die Ohren sirren, da läuft die Suche nach einer neuen Wirklichkeit. Später erst werden die so entstandenen Fäden von einer neuen Logik in die Hand genommen und verwoben.
Die Menschenrechte wurden nicht aufgerichtet durch die Schießpulver-Macht des Kolonialismus, nur teilweise durch die Vernunft-Macht der Philosophie, keinesfalls durch die Supremacy einer DNA oder den Fortschritt einer industriellen Zivilisation, nicht einmal durch die Beweismacht der Wissenschaft oder die Mehrheitsmacht der UN-Vollversammlung, sondern es waren oft randständige, religiöse Figuren, die mit winzigen Rinnsalen das Bett bahnten für den großen Strom der Geschichte: Mose gegen den Pharao, Jesus gegen das Imperium, Bruder Martin gegen den Vatikan. Angetrieben wurden diese doch eigentlich chancenlosen Gestalten wahlweise (?) von menschlichem Mitgefühl oder von einem seltsamen Gott, der sich auf die Seite seiner geringsten Kinder, beziehungsweise Geschwister stellt. Das "wahlweise" bezieht sich auf die humanistische Außen- oder die religiöse Innen-Sicht, ist also kulturrelativistisch. Bei dieser Wahl wird die eigene Sicht nicht aufgegeben, sondern verstehend in Beziehung gesetzt.
Aus den Leiden, Wünschen und Ängsten, denen noch keine Bedeutung zugemessen wurde, muss neues Bedeutungsgewebe erst gesponnen werden. Und es muss! weil nichts vernachlässigbar ist. Die Menschheit ist ein Ganzes, und ist dabei es zu werden. Ihre Geschichte ist nicht egal, weil ihre Erfolge und ihre Traumata weiterwirken in die Zukunft. Was wir, wir Erdlinge, an unserer Geschichte nicht verstehen, wird uns weiterhin gefangen halten, wird unsere Augen verbunden halten, bis wir es begreifen. Die Marginalisierten sind der Saum des Gewandes Gottes und füllen den Tempel. Heilig, heilig, heilig.
Neue Bedeutungszusammenhänge brauchen viel Verstehensarbeit, um ihre Netze sinnvoll zu knüpfen und sie haben nicht automatisch recht. Kritik kann in die Irre gehen. Neue Netze können falsch gesponnen sein. Die Wertschätzung der gut gewobenen, alten Denk-Cocons muss aber jeweils überprüft werden, nicht nur an den alten, internen Kriterien der herrschenden Kultur, sondern auch an den Bedürfnissen, Verletztheiten und Ängsten der Marginalisierten. Die europäisch geprägte Großkultur muss sich erklären, muss sich selber immer wieder neu verstehen lernen, muss sich verständlich machen für die Kulturen, die andere Erfahrungstränge der Menschheitsgeschichte in sich tragen. Auch dort ist die Spinnerei Gottes, in der sibirischen Krankheit und in der Traumzeit der Aborigines. Kulturrelativismus ist der Blick in den Tempel auch der Anderen. Dogmen sind historisch und erfassen Gottes Wirken immer nur ansatzweise. Wie können offene Diskussionen entstehen und sich entwickeln zwischen den Neuigkeiten an den Rändern und dem Alten, das sich für das Zentrum hält?
Das Verstehen ist wichtiger als die Logik und die Leidenschaft für das Heilige, zum Beispiel für die Menschenrechte, ist noch wichtiger. Die Logiken sind Hilfsmittel, mehr nicht. Und sie ändern sich mit der Menschheit. Denkerisch in den Griff kriegen zu wollen Geschichte, Kultur und Moral, gleicht Münchhausens Hand am Schopf. Der Dialog der Kulturen hängt über dem Nichts, muss bodenlos stattfinden, weil die Böden, auf denen wir stehen, unterschiedlich sind. Die Weiterentwicklung der Menschenrechte ist die dringende Zukunftsaufgabe für Freiwillige. Kulturrelativismus ist ein Werkzeug dazu.
Dieser Artikel in druckerfreundlichem Format
Dieser Artikel darf weitergegeben werden unter der Lizenz cc-by-sa 4.0 international, mit der Namensnennung: RoteSchnur.de