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Zyklische Zeit

Time-Gap, die Lücke im Zeitverständnis

ein vorwaerts gehendes Maennchen, das nur aus der Linie besteht, die auch den Boden vor ihm und hinter ihm bildet

Lineares Zeitverständnis

Wie stellst du dir die Zeit vor? Die in naturwissenschaftlich geprägter Kultur aufgewachsenen Menschen haben meistens ein lineares Zeitverständnis. Sie denken sich die Zeit als eine Linie. Der vor uns liegende Teil der Linie ist die Zukunft, der andere Teil, der hinter uns, ist die Vergangenheit. Die Gegenwart ist die Stelle der Zeit-Linie, an der wir uns gerade befinden. Die Linie der Zeit gleitet unter unseren Füßen hinweg oder durch uns hindurch wie ein Faden, wie ein Fluß, oder wir gehen darauf vorwärts wie auf einem Weg. Die Linie kommt aus dem Unendlichen und geht in das Unendliche. Es gibt immer nur eine Bewegungsrichtung, keine Wiederkehr des Vergangenen, kein Schonmaldagewesen des Zukünftigen. Diese Vorstellung von linearer Zeit ist schon in den monotheistischen Religionen angelegt. Wo es eine Erschaffung der Welt als einmaligen Vorgang gibt und ein einmaliges Ende der Welt in irgendeiner Apokalypse, da ist der Ausstieg aus den ewig sich fortpflanzenden Zyklen bereits geschehen. Historisch ist vielleicht der Exodus aus der ägyptischen Sklaverei die Bruchstelle.

konzentrische Kreise, wie eine Zielscheibe, einer der Kreise ist farblich hervorgehoben in gelb und traegt vier Schildchen derselben Farbe. Im linken Schildchen steht Morgen

Zyklisches Zeitverständnis

In den meisten Kulturen und in wahrscheinlich allen Religionen gibt es neben dem linearen Zeitverständnis noch mindestens ein anderes, nämlich das Zyklische. Zeit läuft in Kreisen. Abend und Morgen, Sommer und Winter, Saat und Ernte. Zeit ist in diesem anderen Modell grundlegend als etwas zyklisches, etwas kreisförmiges gedacht. Trotz des in unserer Kultur vorherrschenden linearen Verständnisses, können wir das zyklische Modell nachempfinden. Wird ein Zeit-Kreis mit vier markierten Punkten vorgelegt, zum Beispiel: Morgen-Mittag-Abend-Mitternacht, dann gelingt es auch linear kultivierten Menschen, vier beliebig gemischte Markierungen eines anderen Zeitkreises (Sommer, Winter, Frühling, Herbst) auf den vorgegebenen Kreis zu projezieren. Die Meisten legen den Frühling auf den Morgen, den Sommer auf den Mittag, den Herbst auf den Abend und den Winter auf die Mitternacht.


konzentrische Kreise, wie eine Zielscheibe, einer der Kreise ist farblich hervorgehoben und traegt vier Schildchen derselben Farbe. 
Im linken Schildchen steht Morgen, im oberen Schildchen steht Mittag, im rechten Abend und im unteren Mitternacht    nur vier Schildchen in gruener Farbe mit den Aufschriften: Frühling, Sommer, Herbst und Winter    konzentrische Kreise in den Farben gelb und gruen, der Gelbe mit den Schildchen Morgen, Mittag, Abend, Mitternacht. 
Der Gruene mit den Schildchen Fruehling, Sommter, Herbst, Winter.

Weiterwirken des zyklischen Zeitmodels

Diese Zuordnung erfolgt erstaunlich zuverlässig, auch wenn die Menschen aus unterschiedlichen Kulturen stammen, sogar bei denen aus der modernen Kultur. Dabei handelt es sich doch um physikalisch ganz verschiedene Kreise. Der eine entsteht aus der Drehung der Erde um sich selbst, der andere aus der Bahn der Erde um die Sonne. Auch die Größe der beiden Kreise ist sehr verschieden. Der Tageskreis passt 365 mal in den Jahreskreis. 365,25 wäre genauer, aber wir überspringen einfachheitshalber den Vierteltag der dann im Schaltjahr ausgeglichen wird. Trotz der beträchtlichen Unterschiede scheint das Aufeinanderlegen der beiden Zeitkreise sehr selbstverständlich zu funktionieren. Hinter allen physikalischen Bildungsinhalten wirkt das Kreismodel so mächtig in der menschlichen Seele, dass die Übereinstimmungen der Zeitzyklen verblüffend gut einleuchten.

Das Leben als Kreis

Die Kraft des Kreises war wohl so überzeugend, dass die Menschen dieses Denkmodel auch auf eine weitere, sehr interessante Zeiteinheit anwendeten, nämlich auf die Lebenszeit. Alle Menschen und viele andere Tiere werden geboren, wachsen heran, altern und sterben. Das wiederholt sich bei so vielen Individuen, das muss ein Kreis sein. Die Geburt wird auf den Morgen gelegt und das Erwachsensein (die "Hochzeit") auf den Mittag. Wenn es aber ans Sterben geht, dann gehen die Belegungen auseinander. Streng genommen müsste es dem Geborenwerden gegenüber liegen, also am Abend, bzw. beim Herbst. Aber so schnell wollen die meisten nicht sterben, deshalb sehen sie dort lieber den Lebensabend oder Lebensherbst und schieben den Tod dann eine Viertelrunde weiter auf die Mitternacht. Egal welche der beiden Projektionsweisen gelten soll, es entsteht bei beiden ein Problem: Der Kreis hat eine Lücke. Und da fängt das Rätselraten an: Was war vor unserer Geburt und was kommt nach unserem Sterben? Alle Jenseits-Vorstellungen ergeben sich ganz leicht aus dem zyklischen Zeitmodell. Welcher Storch holt die kleinen Kinder von welcher Wolke und wohin gehen wir am Ende unserer irdischen Lebenszeit? Welches Karma nimmst du beim Sterben mit ins nächste Leben? Wie muss die Reise des Pharaos durch die Dunkelheit des Totenreiches abgesichert werden, damit die Sonnenbarke am nächsten Morgen wieder am Osthorizont ankommt? Das Kreismodel ist so mächtig, dass die Lücke mit irgendeiner Geschichte gefüllt werden muss.

    wie die vorigen Graphiken, nur ist im Kreisviertel links unten die Lücke zwischen Sterben (unten) und Geburt (links) schwarz markiert   

Mind the Gap

"Mind the Gap" sagt die Stimme aus dem Lautsprecher der London Underground, "denk an die Lücke". An dieser Aufforderung haben sich wohl die besten Köpfe und die tiefsten Bauchgefühle der Religionen abgearbeit. Nur war es halt nicht die Lücke zwischen Zug und Bahnsteig, sondern die zwischen Sterben und Geborenwerden. Und so ziemlich alle Religionen lösen das Problem mit einem Ritual. Wenn die Größe des Kreises keine Rolle spielt, könnten wir doch den Lebenskreis komplettieren, die Lücke schließen, wenigstens rituell: Wir bilden einen kleinen, "künstlichen" Kreis im Leben eines Menschen. Wir feiern sein Sterben, seine Beerdigung, während er noch lebt, lassen ihn ein bisschen durch das Reich des Todes reisen, auf einer Sonnenbarke oder in einem Sarg, in einer Höhle, im Bauch von Mutter Erde oder in dem eines Krokodils und dann ziehen wir ihn wieder heraus aus dem Wasser, aus dem Sarg, aus der Erde, aus der Mutterhöhle, aus den Seehundfellen. Wir feiern seine Geburt, seine Wiedergeburt. Wir lassen ihn zum zweiten Mal das Licht der Welt erblicken. Und dann sind wir gespannt, was er zu erzählen weiß von seiner Jenseitsreise, von der Reise durch die Gap. Auch wenn er nichts erzählt, weil es ihm die Sprache verschlagen hat, so hat sich dennoch eine Vollendung des Lebens an ihm vollzogen. Der große Kreis der ganzen Welt wurde rituell auf den kleinen Kreis des Lebens projeziert.

Aus dem mittleren Loch

konzentrische Kreise, im Lebenskreis ist das Kreisviertel links unten die Lücke zwischen Sterben (unten) und Geburt (links) schwarz markiert 
und an einer anderen Stelle ist eine Schleife aus dem konzentrischen System heraus angelegt, mit der Aufschrift Ritual

Den neutralen englischen Artikel "the" männlich zu übersetzen als "der" Gap, ist wahrscheinlich ein Fehler. Steinzeitler würden wohl "die" Gap bevorzugen, im Sinne jener Lücke, durch die Menschen natürlicherweise geboren werden. Initiation heißt dieses Ritual, das in tausend verschiedenen Formen in vielen oder allen Religionen auftritt. Sterben und Geborenwerden, fast wie im richtigen Leben, nur halt in umgekehrter Reihenfolge. Der Initiand ist durch die Gap gegangen, durch die Hölle und vielleicht auch durch den Himmel gereist, hat das Land des Todes erfahren. Und danach ist er ein Wiedergeborener, ein Aus-dem-Wasser-gezogener, ein Kind Gottes, nicht mehr nur ein Kind irdischer Eltern. Die Ganzheit des Lebenskreises ist auf sein lückenhaftes Leben projeziert. Der Kreis ist geschlossen, wenigstens rituell.

… durch die Taufe in den Tod

Das christliche Initiationsritual ist die Taufe. "Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln". So beschreibt der Apostel Paulus die Taufe im Brief an die Römer. Martin Luther drückte es noch drastischer aus: "In der Taufe wird der alte Adam ersäuft und der neugeborene Christ aus dem Wasser gezogen." Die Taufbecken zu Luther's Zeit waren auch noch tief genug, um einen Säugling komplett darin zu versenken und ihn danach weiß eingekleidet als neugeboren zu feiern. Natürlich hat jede Religion ihre eigene Gestaltungsweise und ihre eigenen Symbolismen, die sie mit ihrem Initiationsritual verbindet, die Unterschiede sind wichtig und sollen hier keineswegs eingeebnet werden, aber das Grundmuster wahrzunehmen, ist mindestens genauso berechtigt und genauso wichtig. Diese Wahrnehmung sollte man sich nicht von den Details verstellen lassen. Insbesondere die Religionen mit Weltgeltungsanspruch neigen dazu, ihre jeweilige Einzigartigkeit in den Vordergrund zu stellen. Sie achten sehr auf jedes Alleinstellungsmerkmal und mögen es oft nicht, interreligiös verglichen zu werden. Dieses Abgrenzungsverhalten hat sicher seine Gründe und in den meisten Zusammenhängen bestimmt auch irgendeine Berechtigung, aber wir sind hier auf dem Weg in die Steinzeit und in diesem ganz speziellen Zusammenhang gelten andere Interessen.

Vielfalt der Kreise und der Initiationsriten

Natürlich gibt es noch viele weitere Kreise, den Mondzyklus, den weiblichen Menstruationszyklus und die Gezeiten des Meeres, um nur ein paar zu nennen. Nicht alle lassen sich so selbstverständlich aufeinander projezieren wie Tageskreis und Jahreskreis, aber da wohl Jahrtausende lang im Zyklus als dem "allernatürlichsten" Zeitmodell gedacht und gefühlt wurde, lag es nahe, auch die menschliche Lebenszeit als Zyklus zu verstehen. Und die dabei auftretende Lücke sticht geradezu unvermeidlich ins Auge: Was war vor der Geburt? Was ist nach dem Sterben? Wie schließt sich der Kreis? Wir setzen den Fokus damit auf eine ganz besondere Verstehenshilfe, die das Thema zyklische Zeit zu bieten hat. Von den vielen Bedeutungen, die das Oppositionspaar lineare Zeit - zyklische Zeit in unterschiedlichen Zusammenhängen annimmt, greifen wir eine einzelne heraus, nämlich die Bedeutung für die Initiationsriten.

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Lassen sich Rituale der Steinzeit ahnungsweise erschließen?

Wenn Initiationsrituale so mächtig in so vielen Religionen praktiziert und zu so vielen Ausläufern im Traditionsstrom weitergebildet wurden, darf dann eine gemeinsame Vorform dieser Rituale in früheren Zeiten doch angenommen und erahnt werden, auch wenn sie nicht mehr detailliert rekonstruiert werden kann. Und darf über ihre geistige Ursache spekuliert werden? Schon die Tiere "denken" im Jahreszyklus oder leben zumindest darin. Zugvögel und Lachse, Brunft und Tragezeit und Geburt, Herbstkätzchen und Frühlingskätzchen, Winterschlaf und Sommerhitze, alle Lebensprozesse sind in Zyklen organisiert. Den Zyklus des Jahres abschätzen zu können, ist gut für die Jagd auf die wandernden Herdentiere, um ihnen an den günstigen Stellen aufzulauern. Sind Mond- und Menstruations-Zyklus die Schlüsselstellen für die Symbolisierung von Zeit?

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Steinkopf-von-Msecke-Zehrovice

Kelten und ihre Initiationsriten

Das Rasieren gehört zu den Initiationsritualen vieler Religionen, im Christentum wäre in der Taufe der initiatorische Zusammenhang. Die keltischen Initiationsriten umfassten einen Wechselgang durch tierische Identifikationen. Werde Hirsch, werde Lachs, schwing dich auf wie ein Adler, werde Eber, werde Mensch, so lehrte Merlin den Arthus. Ausbildung geschieht durch eigenes Erleben statt durch bloße Theorie. Schlüpfe in die Haut eines anderen Wesens. Spüre seine Nöte und Schmerzen, seine Wünsche und Lüste.

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