Der Traditionsstrom der neolithischen Göttin gezeigt an einem Beispiel ihrer Körpersprache / Teil 4 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 2019sep25
Die große Göttin der neolithischen Kulturen, hier in der Version von Haçilar, einem Ausgrabungsort im Süden der Türkei, diese große Göttin galt und gilt als die Standard-Religion für einen großen Kulturkreis. Achten Sie auf die Haltung der Hände unter den Brüsten. In Archäologie und Kulturgeschichte wird die Göttin in dieser Körperhaltung gelegentlich als "Brust-Reicherin" bezeichnet. Diese Göttinnenstatuette aus Haçilar ist etwa 7000 bis 8000 Jahre alt. Die ältesten Schichten dieses Ausgrabungsortes gehören noch ins präkeramische Neolithikum, also zu einer sehr frühen Zeit, als es noch keine Keramikgefäße gab. Die jüngsten Schichten von Haçιlar gehen bis etwa 5000 v.Chr..
Das zweite Beispiel aus Anatolien stammt aus Çatalhöyük, einem noch berühmteren Ausgrabungsort, und wird ebenfalls auf etwa 5000 bis 6000 v.Chr. datiert.
Die beiden folgenden Figurinen wurden auf europäischem Boden gefunden, stehen jetzt in Athen, ursprünglich von der griechischen Insel Aegina und aus der alten Kulturregion Thessalien. Sie sind etwas abstrakter geformt, aber die Körperhaltung ist deutlich. Die Datierungen sind etwas offener: Zwischen 6500 und 3300 v. Chr. sind diese Figuren entstanden.
Die bäuerliche Kultur verbreitet sich auch auf die Mittelmeerinseln, hier ein Exemplar aus Zypern. Der seltsam geformte Kopf und das starke Ohrenpiercing interessiert uns jetzt mal weniger, wir gucken nur auf die Haltung der Hände. Diese Figur steht jetzt im Metropolitan Museum. Ebenfalls aus Zypern kommt die folgende Sammlung. Zur Abwechslung sehen wir hier verschiedene weitere Körperhaltungen der großen Göttin, zwei davon mit Kind. Zu unserem Typus der Brust-Reicherin gehört aus dieser Reihe nur die ganz rechts. Zeitlich liegen die Zypriotinnen deutlich später etwa 1500 bis 1200 v.Chr.. Es gibt auch nord-syrische Varianten der Brust-Reicherin mit demselben Vogelkopf wie die zypriotischen, nur habe ich dafür kein Foto mit freier Lizenz gefunden.
Zur minoischen Kultur auf der Insel Kreta gehören die Figurinen aus Phaistos und Knossos, 1700 bis 1600 v.Chr.. Bei der zweiten erinnert die schlangenartige Bewegung der Arme auch an die Darstellungen der Schlangengöttin von derselben Insel.
Vor etlichen Jahren wurden ein oder zwei Statuen der minoischen Schlangengöttin als Fälschungen entlarvt. Das ist natürlich bitter für die betroffenen Museen in Boston und Toronto. Jene Meldung erschien aber unter dem unzutreffenden Titel "Göttinnendämmerung", als sei damit der ganze Göttinnenkult der minoischen Kultur in Frage gestellt. Das ist etwa so, als würde jemand behaupten, den Künstler Pablo Picasso hätte es nie gegeben, nur weil im Kunsthandel ein gefälschtes Picasso-Gemälde aufgetaucht ist. Auf Wikipedia war zeitweise die Bezeichnung "Schlangengöttin" für die echten Figuren nicht mehr auffindbar. Der Picasso-Artikel auf Wikipedia war aber nicht gefährdet, hoffe ich.
Die Göttin als Brust-Reicherin erscheint weiter in Israel als "Aschera" hier ein Exemplar aus Lachisch, etwa 700 v.Chr.. Da wissen wir jetzt einen der möglichen Namen dieser Göttin, denn zu der Zeit gibt es schriftliche Quellen. Die erste Figur steht im Metropolitan Museum, die zweite im Hecht-Museum in Israel und die sieben weiteren Figürchen sind im Israel-Museum in Jerusalem zu sehen. Mit den späten Erscheinungsformen dieser Göttin, unter den Namen Aschera oder Astarte, hatten die alttestamentlichen Propheten heftige Konflikte, die von den feministischen Interpretationen nur unzureichend erklärt werden. Bei vielen der Figuren ist der Unterteil wie eine Säule oder ein runder Pfahl ausgeführt. Das stimmt überein mit den Bezeichnungen "Pfahl der Aschera" in den biblischen Texten. Wahrscheinlich gab es neben den kleinen Tonfigürchen für den Hausgebrauch auch noch größere Statuen der Göttin an den Heiligtümern, ursprünglich waren heilige Bäume selbst der Ort der Göttin, dann wurden diese Bäume als Holzpfähle nachgestellt.
Das hier vorgeführte Foto-Sortiment soll zeigen, dass diese Figuren von den Archäologen haufenweise ausgegraben werden, damit nicht beim eventuellen Auftauchen einzelner Fälschungen wieder die Existenz dieser gesamten Gottesvorstellung bestritten wird. Die Brust-Reicherin ist nicht eine einzelne Figur sondern ein Typus, ein Göttinnen-Bild das über etliche Jahrtausende in einem großen Gebiet durch hunderte oder sogar durch tausende von Figurinen belegt ist. Die Theorie von der Göttin hängt nicht an einer einzelnen Figur, sondern es geht um einen Traditionsstrom. Durch Jahrtausende sehen wir immer wieder die gleiche Körperhaltung. Was bedeutet diese Körperhaltung? Sowohl die runde, säulenartige Basis der Figuren als auch die Rede von den Aschera-Pfählen und Bäumen in den schriftlichen Quellen zeigen die Verbindung zu den Baumkulten. Gehen Sie geradeaus weiter und schauen Sie dazu die Wandmalerei aus der Grabkammer von Thutmosis III an!