Die seltsame und oft missverstandene Erzählung von Rahab und den Spionen im Buch Josua / Teil 1 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 01Okt2020
Rahab heißt die missverstandene Frau von Jericho und sie wird als Hure bezeichnet.
Mehr als drei tausend Jahre haben sich zwischen uns und ihrer Geschichte breit gemacht, um ihr Geheimnis zu verbergen.
Die Erzählung von dieser Frau und von zwei Spionen hört sich an wie eine Agentenstory nach James Bond Art.
Rahab als "Bond-Girl" wird sich aber seltsam verhalten und die merkwürdige Spionage-Geschichte
passt am Ende doch nicht in dieses Genre, sondern sträubt sich wie eine Katze mit
allen Vieren gegen die moderne Schublade. Jörg Zink hatte schon die Auffälligkeiten des
Textes bemerkt und diesen Spuren wollen wir hier folgen, gegen alle normalen Auslegungen.
Die Rätsel werden in dieser Runde nur gestellt, noch nicht gelöst.
Wir lesen die Geschichte (Buch Josua, Kapitel 2) schrittweise mit kleinen Kommentaren:
"Josua, der Sohn Nuns, sandte von Schittim* aus heimlich zwei Männer als Kundschafter.
Geht und erkundet die Erde und Jericho."
*Schittim ist ein Ort östlich von Jericho auf dem anderen Ufer des Jordan
Die normale Übersetzung "erkundet das Land" würde ins 007-Agenten-Schema passen, denn "das Land" hört sich an wie ein Staat, der ausspioniert werden soll. Der Ausdruck "Erde von Jericho" bezieht sich aber nicht auf staatliche Organisationsformen im modernen Sinne. Irgendwo in der Bronzezeit soll die Geschichte spielen, so ist sie zumindest in den biblischen Erzählverlauf einsortiert, auch wenn die Archäologen dann den frommen Datierungen in die Quere kommen. "Keine Posaunen vor Jericho" hieß der berühmte Widerspruch von Finkelstein und Silberman gegen die Fans der "Battle of Jericho". Als Tor zu fernen Zeiten möchte ich die Rahab-Erzählung schon gern nutzen, doch auf ein Vierteljahrtausend (soweit liegen Archäologie und Fundamentalismus in der Datierung auseinander) kommt es vielleicht gar nicht an, wenn wirklich Religion das Thema ist. Der Fluss der Religion ist zäh und bewegt sich im Jahrtausend-Rhythmus. Josuas Posaunenchor darf notfalls auch ein bisschen später zum Auftritt kommen. Im Moment geht es nur um die leicht befremdliche Übersetzung "Erde" statt "Land". Sie klingt schon ein bisschen mehr nach Ackerboden und ist damit der erste, noch wackelige Schritt in die richtige Richtung, nämlich in die Abgründe der Zeit. Das harmlose Indiz, das zugunsten dieser abweichenden Übersetzung angeführt werden kann, ist die Unklarheit des Spionage-Auftrags. Weder von der Truppenstärke noch von der Bewaffnung Jerichos ist da die Rede, erst recht nicht von den später legendären sieben Ringen der Stadtmauer. Einstweilen mag noch die Ausrede gelten, die militärische Zielsetzung des Spionageauftrags sei so selbstverständlich, dass sie nicht extra erwähnt zu werden braucht, aber am Schluss, bei der Rückkehr der Kundschafter zu Josua Ben-Nun, ihrem Auftraggeber, wird sich die Frage deutlicher stellen und einen langen Schwanz weiterer Fragen hinter sich herziehen, so ähnlich wie der ägyptische Gott Bes seinen langen Löwenschwanz manchmal auf dem Boden daherzieht.
"Die Kundschafter machten sich auf und kamen ins Haus einer Hure namens Rahab."
"Sex sells", sagt der Engländer, oder war's der Amerikaner? Egal, die Agentenstory wird aufgepept mit einen Schuss Verruchtheit und Rotlichtmilieu, die Geschichte scheint dem James-Bond-Schema zu folgen. Wenn aber Rahab nur die ur-alt Version eines Bond-Girls wäre, was hätte dann diese Erzählung in der Heiligen Schrift zu suchen, so fragt sich nicht nur der fromme Bibelleser. Insbesondere der Umstand muss verwundern, dass die Hure Rahab noch öfter in der Bibel auftaucht und zwar im Neuen Testament. Am prominentesten steht ihr Name gleich zu Beginn des Matthäus-Evangeliums. Rahab erscheint dort als eine von nur vier namentlich genannten Frauen im "Stammbaum Jesu". Die Kette männlicher Namen und Zeugungen umfasst dagegen achtundzwanzig. Vier Frauen in seltsamer Zusammenstellung: Was macht die Hure Rahab aus Jericho im Verein mit Ruth, der ehrwürdigen Ur-Oma von König David? Laut Matthäus-Evangelium wird nämlich diese Rahab zur Mutter des Boas und damit Schwiegermutter der Ruth, der bitterarmen Exilantin aus dem Lande Moab, die dann in Bethlehem zur Stammmutter des Königshauses David wird. Und es kommt noch schlimmer: Eben dort, im Stammbaum Jesu nach Matthäus, wird Rahab's Name gemeinsam mit dem der Jungfrau Maria genannt. Die Hure und die Jungfrau, wie soll das zusammenpassen? Hätte man die eine, anrüchige Ur-Ahnin unseres heiligen Erlösers nicht diskret beiseite lassen können? Soviele Menschen waren an der Gestaltung, Auswahl und Weitergabe der biblischen Erzählungen beteiligt, warum hat keiner die Rahab-Geschichte aussortiert? Unzählige andere Geschichten der erzählungsreichen Antike sind untergegangen oder wurden nur in zweitklassigen Sammlungen weitertradiert. Es muss wirklich nicht jede Story in den engeren Kreis der Erwählten aufgenommen werden. Zum Kanon der Heiligen Schriften gezählt zu werden, war die höchste Würde, die einem Text widerfahren konnte. Warum hat bei der Rahab-Erzählung keine moralische Zensur stattgefunden? Irgendwer unter den Erzähler*innen, Schriftsteller*innen, Redakteur*innen und Abschreiber*innen bei der ganzen Bibelmacherei hätte doch sagen müssen: Die Hure Rahab lassen wir weg! So wäre das sicher zu erwarten gewesen, wenn es sich nur um einen dummen, kleinen Spionage-Thriller handeln würde. Die Erzählung von der Hure Rahab scheint etwas anderes zu sein als nur eine Soldaten-Zote oder ein 007-Unterhaltungsstückchen. Wir dürfen uns also fragend wundern, über die hohe Bedeutung, die dieser geheimnisvollen Frau im Fortgang der biblischen Traditionsbildung zuerkannt wird.
"Da wurde dem König von Jericho gemeldet: Vorsicht, in der Nacht sind Männer von den Israeliten gekommen, um die Erde zu erkunden."
Wir tun so, als befänden wir uns weiterhin im 007-Modus: Die Spionage-Abwehr von Jericho funktioniert. Die Stadtbewohner sind schon in Alarmbereitschaft, weil draußen auf dem anderen Ufer des Jordan eine große Anzahl von Nomaden lagert, Leute aus der Wüste, eben jene Hebräer, die offensichtlich eine Gefahr darstellen für Jericho, die Palmenstadt.
"Da sandte der König von Jericho zu Rahab und ließ ihr ausrichten: Gib die Männer heraus, die in dein Haus gekommen sind, denn sie sind gekommen um die Erde ganz zu erkunden."
Die Informationen der Spionage-Abwehr sind konkret und zutreffend. Entweder war das Rotlichtmilieu in der Altstadt von Jericho recht überschaubar oder ganz Jericho hatte noch eine eher dörfliche Kommunikationsstruktur. Oder wie wäre das zielgerichtete Zugreifen auf das Haus Rahabs sonst zu erklären? Wie auch immer, der Spionage-Fall ist damit doch wohl abgeschlossen, Verhaftung und Ende. Aber ....
"Aber die Frau hatte die beiden Männer weg genommen und verborgen und sie sprach: Ja, es sind Männer zu mir gekommen. Ich wusste nicht, woher sie waren. Und als es dunkel wurde und das Stadttor geschlossen werden sollte, gingen die Männer hinaus. Ich weiss nicht wohin. Jagt ihnen schnell nach, dann könnt ihr sie noch erwischen."
Da stimmt was nicht im Rollenschema. Kein Spionageabwehrtrupp lässt sich von einer Prostituierten an der Haustür abfertigen und wegschicken. Rahab erteilt dem Suchtrupp des Königs Anweisungen und diese werden befolgt. Geht woanders suchen, die Verdächtigen sind nicht in diesem Bordell. Die vermeintlich verachtete Prostituierte legt eine Autorität an den Tag, die sich mit der des Königs messen kann. Ist diese Frau vielleicht die Mätresse eines Mächtigen? Was beieinflusst die Offiziere? Oder ist das ein Fehler im Drehbuch? Diese Hure passt nicht ins Klischee. Die sonst so abfällige Bezeichnung muss in dieser Geschichte etwas Anderes bedeuten.
"Sie hatte aber die Kundschafter auf die Dachterrasse steigen lassen und sie unter den Flachsstängeln (unter dem Flachs des Pfahls) verborgen, das von ihr auf dem Dach angeordnet worden war."
Die Bedeutung des Ausdruckes "Flachsstängel" ist nicht ganz klar. Es handelt sich um eine singuläre Wortkombination aus Fasern und Holz. Ist es Flachs an einem Pfahl? Bast eines bestimmten Baumes? Was für einen Teppich hatte Rahab da ausgebreitet? Mit welchem Geflecht wurden die Kundschafter bedeckt? Unter welchen Mantel mussten sie schlüpfen?
"Die Verfolger aber jagten inzwischen den Weg hinunter zum Jordan bis an die Furten und als sie draußen waren, wurde das Tor hinter ihnen geschlossen."
Das ist die einzige, dürftige Stelle in der Erzählung, die von militärischem Aktionismus redet. Erst einige Kapitel später im Josua-Buch, als nach siebenfacher Umkreisung die Stadtmauer durch Posaunenschall zusammenbricht, werden die Action-Cameras und Spezial-Effekt-Studios wieder etwas zu tun bekommen. Ihr wisst schon: "Joshua fit the battle of Jericho". Da wird die Geschichte dann populär. Wir bleiben aber bei dem erstaunlich unmilitärischen zweiten Kapitel.
"Noch bevor die Männer eingeschlafen waren, stieg Rahab zu ihnen auf die Dachterrasse"
Zwar ist im Geheimdienstjargon das Wort "Schläfer" bekannt, aber solche Schläfer wie diese hier, sind damit wohl nicht gemeint. Haben die Spione nichts Besseres zu tun? Wir hätten Verständnis, wenn sie sich fieberhaft in die feindliche Computeranlage hacken müssten oder wenn sie mit Angstschweiß auf der Stirn und der Waffe in der Hand hinter Rahabs Haustür stünden, um dem eindringenden Suchtrupp ein erbittertes Gefecht zu liefern. Auch eine halsbrecherische Flucht über die Dächer von Jericho wäre ein dankbarer Klassiker unter den Agentenszenen oder der Weg durch eine eklige Kanalisation, aber Kanalisationen gab es zu solch frühen Zeit höchstens im indischen Harrapa, soweit das die Archäologen rekonstruieren können. Und wenn sich unsere Spione schon verstecken, dann bitte in unvermuteten Nischen und Gewölben mit irgendeinem Indiana-Jones-Überraschungseffekt, aber doch nicht unter langweiligen "Flachstängeln". Es gäbe so viele Möglichkeiten für richtige Hollywood-Agenten, was aber ist das eifrigste Bemühen dieser Bibel-Spione? Sie versuchen einzuschlafen! Es ist nachvollziehbar, dass ihnen dies nicht auf Anhieb gelingt. Sie befinden sich schließlich in einer nervlich nicht ganz unangespannten Situation, aber wie um Himmels willen kommen sie überhaupt auf die Idee, sie müssten jetzt ein Schläfchen machen? Draußen läuft die Suche nach ihnen auf Hochtouren. Sie befinden sich in Lebensgefahr. Was gibt es da zu schlafen? Was wollen sie im Schlaf erkunden? Welche Geheimnisse sollen im Land der Träume aufgedeckt werden? Was für eine Spionage-Methode soll das sein? Welcher Geheimcode lässt sich knacken durch ein Nickerchen im Dachgarten? Unter welcher drögen Droge stand der Drehbuchautor als er die Spione schlafen schickte? Und auf welche REM-Phase ihres Schlafes hätte Rahab warten sollen, um angemessen ihres Amtes zu walten?
"Und Rahab sprach zu ihnen: Ich weiß, dass der JHWH* euch die Erde gegeben hat.
Ein heiliger Schrecken vor euch ist über uns gefallen und alle Bewohner der Erde vergehen vor euch.
Wir haben gehört, wie der JHWH das Wasser im Schilfmeer
ausgetrocknet hat vor euch her, als ihr aus Ägypten zogt und was ihr den beiden
Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordan angetan habt, wie ihr an
ihnen den Bann vollstreckt habt. Seit wir das hörten, zerfloss unser Herz und
der Atem stockte uns allen. Denn der JHWH, euer Gott, ist Gott
oben im Himmel und herab auf die Erde."
(*JHWH soll hier Darstellung des hebräischen Gottesnamens sein)
Ist es wirklich nur die Psychologie des Krieges, die hier wichtig ist? Soll der Verlust der Kampfmoral der jerichanischen Bevölkerung die entscheidende Information sein, die den Spionen gegeben wird aus dem berufenen Munde einer Hure? Und wieso spricht eine Angehörige dieses Berufes über einen Gott? Wenn es denn der Berufsstand gewesen wäre, der heutzutage mit der Bezeichnung Hure gemeint wird. Und was ist das für eine seltsame Formulierung am Schluss von Rahabs Rede:
"Der JHWH, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und herab auf die Erde"?
Jetzt sollte ein bisschen der Vorbehalt gegen die wissenschaftlich üblichen Interpretationsmuster eingeübt werden: Bei der Auslegung historischer Texte gehört es zu den gängigen Methoden, aus dem Rahmen fallende Teile des Textes als spätere Ergänzung zu bezeichnen. Diese Teile werden nicht mehr als Aussagen des ursprünglichen Autors verstanden, sondern einem späteren, fiktiven Redakteur zugedacht. Wenn ein Satz des Textes also Schwierigkeiten macht, dann wird er einer späteren Entstehungszeit zugerechnet, in der er leichter Sinn zu machen scheint. Wer es gewohnt ist, in der Interpretation so zu arbeiten, gerät in die Versuchung, inhaltlich Spannungsreiches auf unterschiedliche Redaktionsschichten zu verteilen und damit die Spannung aufzulösen. Mit dieser Vorgehensweise könnte man es sich hier in der Rahab-Geschichte ganz leicht machen: Nur der kriegspsychologische Teil gehöre zur ursprünglichen Spionage-Erzählung, der religiöse Spruch dagegen sei ein nachträglich eingefügter Kommentar. So wäre die einfache Lösung. Rahabs frommer Spruch stamme nicht von Rahab, sondern irgend ein späterer Abschreiber oder Redakteur des Textes habe der ursprünglichen Spionage-Geschichte einen frommen Satz hinzugefügt.
Wenn dieser Satz nicht von Rahab gesprochen worden wäre, dann hätte sie also nichts weiter gesagt, als die zerfließenden Herzen und den stockenden Atem, also nur die Umschreibungen der puren Angst. Kein Bekenntnis der heidnischen Hure zum Gott Israels? Wie soll sie es in den Stammbaum Jesu schaffen, ohne ihr berühmtes Glaubensbekenntnis zum Gott JHWH oben im Himmel und herab auf die Erde? Dann wären es nur die fremden Federn irgendeines Redakteurs, mit denen sie - nachträglich geschmückt - einzog in die Gesellschaft von Ruth und Maria?
Wenn dieser Satz nicht zur ursprünglichen Erzählung gehören würde, wäre dann nicht der Handlungsfaden an dieser zentralen Stelle arg dünn? Nur ein bisschen Kriegspsychologie: Die Leute in Jericho haben Angst. Das soll alles gewesen sein, was die Kundschafter mitnehmen können? Sonst war da nichts?
Die Formulierung vom Gott oben im Himmel und herab auf die Erde scheint nicht ganz ungefährlich zu sein. Überall, wo diese Formulierung in der Bibel auftaucht, wird sie irgendwie ein bisschen auf Distanz gesetzt. An manchen Stellen wird sie negativ formuliert: "Es gibt keinen Gott, der dir gleich wäre, weder im Himmel noch auf Erden" (1.Kön.8,23), an anderen wird sie als Frage gefasst: "wo ist ein Gott im Himmel und auf Erden, der es deinen Werken und deiner Macht gleichtun könnte?" (5.Mose 3,24). Am deutlichsten wird es, wo Rahabs Bekenntnisformel von vorne und von hinten eingepackt wird mit Betonungen der Einzigkeit Gottes: "dass der JHWH der alleinige Gott ist oben im Himmel und unten auf Erden, und keiner sonst". (5.Mose 4,39) Das "alleinige" davor und das "keiner sonst" dahinter, zeigen doppelt das Bemühen um monotheistische Absicherung. Ist Rahabs frommer Spruch doch nicht ganz koscher? Warum werden da monotheistische Sicherungen eingebaut? Könnte das Glaubensbekenntis dieser Kanaaniterin zum Gott Israels sonst aus dem Ruder laufen? Droht da irgendwas aus ihren Worten?
Bei den normalen, wissenschaftlichen Auslegungen werden die monotheistischen Bekenntnisse an den anderen Stellen der Bibel als die angeblichen Originale verstanden. Die Kombination der Worte Himmel und Erde ist eine Umschreibung für das Weltganze. Dieser Merismus wird anscheinend als gegeben vorausgesetzt. Aber so ein Merismus ist nicht einfach ein geschmäcklerisch gewähltes Stilmittel, sondern trägt ein Weltbild in sich, muss also irgendwann entstanden sein als Weltbild, bevor es zum leicht verfügbaren Stilmittel wurde. Einen Gott als Gott des Himmels und der Erden zu bezeichnen, erhebt einen universalen Anspruch für diesen Gott. Damit ist es ein Glaubensbekenntnis. Wann und wo ereignet sich dieses Glaubensbekenntnis zum ersten Mal? Wann und wo vereinigen sich der Gott JHWH und das Weltbild aus Himmel und Erde? Stimmen die sexuellen Konnotationen des Wortes "vereinigen" in diesem Zusammenhang? Manche theologische Auslegung meint, die Formel vom Gott des Himmels und der Erde sei anderswo konstruiert und dann als Kopie der kanaanäischen Hure in den Mund gelegt worden. So gering wird Rahab in der Wissenschaft eingeschätzt. Lasst uns die Rahab verteidigen! Der irgendwie gefährliche Spruch stammt von Rahab selbst! Kein Theologe, keine religöser Anführer, kein Redakteur, kein Abschreiber hat diese Worte zusammengebastelt und eingefügt. Die Formel "der JHWH, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und herab auf die Erde" ist der zenrale Satz der ganzen Rahab-Geschichte und der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Ich greife vor: Rahab spricht aus ihrem sehr alten Weltbild heraus eine in diesem Moment neue Wahrheit, mit der sie in den Rang der Propheten aufsteigt. Sie formuliert die Urform eines Glaubensbekenntnisses, das von ihr allerdings noch ziemlich anders gemeint war. Und ihr Spruch ist noch nicht einmal ein Bekenntnis, sondern der Spruch ereignet sich in einer anderen Textgattung, die wir noch werden kennenlernen müssen. Von ihrer eigenartigen Formulierung wird später nur die geglättete, monotheistische Bedeutung übrig bleiben, aber ursprünglich war Rahabs Spruch garstig polytheistisch und widerborstig wie eine wilde Katze. Um das verständlich zu machen, werden wir noch ein paar Zwischenschritte brauchen. Im Unterschied zu uns sind die Spione aber offensichtlich schon am Ziel ihrer Mission.
Die Kundschafter suchen keine weiteren Geheiminformationen. Sie brauchen weder militärische noch kriegspsychologische Auskünfte. Sie haben alles erreicht, wozu sie gekommen waren. Nach dem Aussprechen des zentralen Satzes wird im Fortgang der Erzählung nur noch über Rahabs Sicherheit verhandelt. Genau für diesen einen, seltsamen Satz hatten die Spione Kopf und Kragen riskiert. Diesen oder einen ähnlichen Satz aus Rahabs Mund zu hören, war der Sinn der ganzen Mission. Und wenn so ein Satz mit vergleichbarer Autorität, sonst irgendwo zu holen gewesen wäre, dann hätten die Spione wohl kaum den gefahrvollen Besuch in Jericho gewagt. Anscheinend hätte niemand sonst so einen Satz in befriedigender Weise verkünden können, als allein die Rahab von Jericho. Diese jetzt noch befremdliche These soll in den weiteren Artikeln an Verständlichkeit gewinnen. Wir sind eingestiegen in eine ziemlich andere Kultur und unser uralt Bondgirl fängt erst an, sich zu entpuppen.
"So schwört mir nun bei JHWH, dass ihr barmherzig sein werdet zur Familie meines Vaters, wie ich zu euch barmherzig war. Gebt mir die Garantie, dass ihr am Leben lasst meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern und alles was zu ihnen gehört und dass ihr uns vor dem Tode rettet."
So spricht Rahab weiter, jetzt ganz in ihrem eigenen Interesse. Uns erstaunt soviel Familienverbundenheit in diesem Gewerbe, aber das mag eines der harmloseren von unseren Vorurteilen sein. Was setzt Rahab in den Stand so zu verhandeln?
Leicht könnte man meinen, es sei nur ihre Rettung der Spione, für die sie Gegenleistung fordern darf. So steht es im Text als Ansatzpunkt für Rahabs Forderung. Und so wird das in manchen frommen Interpretationen eingeordnet. Aber ist das schon alles? Das Gute an der Hure Rahab soll nur darin bestehen, dass sie die feindlichen Spione bei sich versteckt. Was für eine tolle moralische Leistung! Sie ist dann nicht nur eine Hure, sondern auch eine Verräterin, die sich schnell und charakterlos auf die Seite der Sieger schlägt. Braves Mädel! So kommt man in den Himmel beziehungsweise in den Stammbaum Jesu. Sorry für diese bittere Kritik an den gängigen Auslegungen dieser Bibelstory. Ein Stück weit stimmt es ja, Rahab verrät ihre Heimatstadt und bietet sich den Fremden an, aber davor war dieser seltsame Satz.
Solange Rahabs seltsamer Spruch nicht oder nur halb verstanden ist, gerät das Folgende in Missverständnisse. Wenn der Kultur-Umbruch, den Rahab mit ihrem Himmel-und-Erde-Spruch vollzogen hat, verständnislos übergegangen wird, dann besteht die restliche Geschichte nur noch aus privaten Selbstrettungsversuchen. Alles läuft dann nach dem Gauner-Motto "eine Hand wäscht die andere". Mit solch vermeintlich frommen Interpretationen wird die Bedeutung des Textes reduziert auf die Deals der privaten Überlebensstrategie. Rette deine Haut, egal um welchen unmoralischen Preis. Auch wenn der Rahab-Spruch als Bekehrung gerechnet wird, kommt diese Bekehrung in den Verdacht, nur Mittel zum egoistischen Zweck zu sein. Damit wird dem Text seine Ehre genommen und auch er zur Hure gemacht. Die Konsequenz aus den üblichen Rahab-Interpretationen hieße, sich neuen Machthabern an den Hals zu werfen. Das Leben selbst hätte dann keine Würde, keine Ehre, sondern diente nur der egoistischen Selbsterhaltung. Soll das die biblische Empfehlung sein? Ist der Monotheismus einfach mächtiger als die Polytheismen und damit besser? Das ist eine Rückprojektion späterer Jahrtausende auf das Zeitalter Rahabs. Von der mächtigen Entfaltung der Monotheismen war zu Rahabs Zeiten kaum etwas zu ahnen, oder nur mit sehr großem, religiösen Weitblick. Mit den gängigen, monotheistischen Interpretationen wird nicht nur Rahabs Ehre übergangen, sondern es werden missachtet auch Millionen anderer Menschen, die an Kulturumbrüchen leiden. Und der Werdegang des Monotheismus verkommt zur reinen Machtpolitik. Solch entwürdigende, privatisierende Auslegung von Texten richtet Unheil an, besonders, wenn es sich um biblische Texte handelt. Ob meine Auslegung dann die Richtige, also Heilsame sein wird, sei dem anheimgestellt, der das letzte Urteil hat.
Ist der fromme aber schräge Spruch, den kein Redakteur, sondern Rahab selbst geliefert hat, der Grund für ihre starke Verhandlungsposition? Oder liegt ihre eigentliche Stärke gar nicht so sehr im bisher Geschehenen, sondern vielmehr in einer zukünftigen Rolle, für die sie noch gebraucht werden wird? Denkt Rahab schon so zukunftsorientiert und weiß, was sie wert ist für die Neuzugezogenen? Lassen wir das mal so kryptisch stehen. Wir haben für diesen Lektüregang nur Rätsel versprochen, noch keine Lösung.
"Die Männer sprachen zu ihr: Bei unserem Leben schwören wir dir Schutz und Treue, wenn JHWH uns die Erde geben wird. Doch halte die Sache noch geheim. Da ließ Rahab sie an einem Seil durch's Fenster hinab, denn ihr Haus war an der Stadtmauer."
In Bayern heißt das "Fensterln", diese sportliche Zugangs- und Abgangs-Weise des heimlichen Liebhabers aus dem Haus der Geliebten, aber so ganz bayrisch ist das hier nicht gemeint. Die Abseil-Aktion ist die spannende Einführung jenes Symbols, das im weiteren Verlauf noch Bedeutung gewinnt: Das Seil.
"Und Rahab sprach zu ihnen: Geht zuerst auf das Gebirge, damit ihr nicht euren Verfolgern in die Arme lauft. Versteckt euch dort drei Tage lang, bis der Suchtrupp zurückgekehrt ist. Danach habt ihr freie Bahn. Die Männer sprachen zu ihr: Folgendermaßen wollen wir den Schwur einlösen, den wir zu deiner Sicherheit geschworen: Wenn wir über die Erde kommen, dann binde dieses rote Seil ins Fenster, durch das du uns herabgelassen, und versammle zu dir ins Haus deinen Vater, deine Mutter, deine Brüder, die ganze Familie. Wer dann das Haus verlässt, sei selber schuld an allem was passiert. Für diejenigen jedoch, die im Hause sich befinden, gilt unsre Garantie. Ihnen wird nichts geschehen. Doch wenn du etwas verrätst von unserer Abmachung, wird diese hinfällig. So sei es, sprach Rahab, ließ die Männer gehen und knüpfte das rote Seil ins Fenster."
Das rote Seil in dieser biblischen Geschichte war vielleicht der Inspirator für den roten Faden, der im Vereinigten Königreich der traditonsreichen Briten in jedes Seil gedreht werden musste, wenn es Eigentum der Krone war. Auch "der rote Faden" in der Erzähltechnik könnte damit zusammenhängen. Weitere Fäden und Schnüre werden noch zu beschreiben sein. Wichtig ist die Frage, ob Rahabs Seil nur zufällig rot war und nur zufällig zur Hand, um Spione abzuseilen? Natürlich nicht! Welche andere Rolle könnte es gespielt haben in Rahabs Haus, wenn das nicht einfach ein Bordell war, und in Rahabs Beruf, wenn der nicht übereinstimmt, mit dem was später als Prostitution bezeichnet wird? Was war das rote Seil, bevor es zum "Fensterln" der Spione verwendet wurde? Die Farbe erinnert an Blut, wenn es Purpur war an geronnenes Blut, und von Ferne an die rötliche Farbe des Lebens schon in den Riten der Steinzeit. Der Rötel, ein zu Staub zermalenes rotes Gestein, ist das vielleicht älteste Zeugnis von symbolhaftem Denken, von Religion, von Jenseitsglaube. Damit wurden die Toten bemalt, bestreut, geehrt, durch viele Jahrtausende. Religion ist zäh.
"Die Männer versteckten sich drei Tage lang im Gebirge. Der Suchtrupp kehrte erfolglos zurück. Dann gingen die Männer zurück über den Jordan zu Josua Ben-Nun und erzählten ihm alles, was ihnen begegnet war. Der JHWH hat diese ganze Erde in unsere Hände gegeben und es haben auch alle Bewohner dieser Erde Angst vor uns."
Der letzte Halbsatz über die Angst des Gegners wäre auch nach modernem Verständnis noch kriegsrelevant und dürfte in einem militärischen Bericht vorkommen, scheint aber für diese Spione nicht die Hauptsache zu sein. Die anderen Teile des Berichts stecken in den anderthalb Sätzen davor: Von JHWH und Erde ist da die Rede, aber anders, als wir es denken. Und davor heißt es: "Sie erzählten ihm alles was ihnen begegnet war".
Das "alles was ihnen begegnet war" scheint unsere ganze Erzählung zu meinen. Josua Ben-Nun erhielt denselben Bericht, den wir gerade lesen. So verstehe ich diese Zusammenfassung. Die ganze Rahab-Erzählung ist also zugleich der Abschlussbericht der Spione. Soldaten, Wachen, Wehrtürme? War da irgendetwas Militärisches bei allem, was ihnen begegnet war? Wo waren sie denn gewesen, die Agenten, außer im Bordell? Die Hure Rahab war ihnen begegnet, samt Flachstängeln, Einschlafversuch und dem seltsamen Spruch von dem Gott im Himmel und herunter zur Erde. Interessiert soetwas den General? Bei 007 wäre Rahab nur das außerdienstliche Privatvergnügen des Agenten, über das die Führungsoffiziere hinwegsehen, solange der eigentliche Auftrag erfüllt wird. Gehört Rahabs Spruch vom "Gott oben im Himmel und herab auf die Erde" auch zum Abschlussbericht der Spione, als das, was ihnen dort begegnet war? Waren Rahab und ihr Spruch womöglich sogar die Hauptsache, ihr eigentlicher Auftrag?
Soweit die erste Runde unserer Lektüre der Rahab-Geschichte. Als Spionagestory steckt diese Geschichte voller Ungereimtheiten. Alle James-Bond-Erfahrungen werden kräftig gegen den Strich gebürstet. Kaum ein Satz fügt sich in die gängigen Erwartungen. In der Hermeneutik, der Kunst des Verstehens, gibt es folgende wichtige Regel: Wenn der Text nicht Deinen Erwartungen entspricht, dann sage nicht: "Der Text ist blöd", sondern versuche es mit der Frage: "Wo bin ich noch zu blöd? Wo ist mein Horizont zu eng, als dass ich dem Text zu folgen vermöchte?" Dabei wäre die Rahab-Geschichte ganz klar und folgerichtig, wenn wir ihr nur wirklich folgen würden, anstatt in unseren Vorurteilen hängen zu bleiben.
Machen wir uns unsere Befangenheiten bewusst:
Erste Befangenheit: Spionage betrifft Militärisches.
Zweite Befangenheit: Wenn die beiden Spione im Bordell landen, dann suchen sie wohl eine Befriedigung ihrer privaten Triebe, anstatt ihrem Auftrag nachzugehen.
Dritte Befangenheit: Erkenntnis wird mit wachen Sinnen gewonnen.
Vierte Befangenheit: Eine Hure hat mit Sex zu tun, nicht mit Religion.
Fünfte Befangenheit: Die Israeliten glaubten schon immer an einen allmächtigen, allwissenden Gott, wie er von einer anständigen, monotheistischen Theologie vorgeschrieben wird.
Sechste Befangenheit: Die Erde spielt keine Rolle und der Himmel noch weniger, solange nicht gerade ein Komet auf Kollisionskurs zu unserem Planeten geht. Dann wäre es eine Rolle für Bruce Willis, männlich, stark, hellwach.
Siebte Befangenheit: Rahabs rote Schnur sei nur ein zufällig vereinbartes Erkennungszeichen, ein beliebiges Requisit, an und für sich bedeutungslos und austauschbar.
Achte Befangenheit: Die Bezeichnung "Hure" sei das Peinlichste an dieser Bibelstelle.
Soviele Vorurteile auf einen Ruck abzulegen, ist natürlich zu viel verlangt. Wir wollen doch nicht unvermittelt vor der nackten Wahrheit stehen. Gehen wir langsamer vor. Um aus unseren Befangenheiten heraus zukommen, müssen wir Rahabs roter Schnur noch ein gutes Stück weiter folgen in die Tiefen der Vergangenheit.
Befremdliche Bilder führen manchmal zu überraschenden Lösungen. Wie wichtig und wie wertvoll die Scherben von Kuntillet Ajrud sind, sieht man ihnen wirklich nicht an. Ein bisschen Vertrauen muss da schon investiert werden.
Tonscherben von Kuntillet Ajrud. Umstrittene Nachzeichnung von einem umstrittenen Original. Hier wird zunächst die Version mit zwei männlichen Gestalten gezeigt. Eine andere Version, mit der rechten Mannesgestalt als Frau, gilt als die Richtigere. Auf den Pithoi ist die Farbe ziemlich blass, man kann das so oder so sehen. Bild-Lizenz cc0
Ein paar Tonscherben von der Ausgrabungsstätte Kuntillet Ajrud auf dem Sinai führten zu heftigen Verunsicherungen, weil die Zeichnungen und Inschriften viele Vorstellungen von einer monotheistischen und bilderlosen Religion in frage zu stellen scheinen. Die Panik war voreilig. Alles wird sich klären. Die Funde von Kuntillet Ajrud passen bestens zur Erzählung von der Hure Rahab in Jericho und ihrem Kontakt mit den israelitischen Spionen. Spaßeshalber dürfen Sie sich die beiden Gestalten in der Mitte mal kurz als die beiden Kundschafter denken und rechts außen die Harfenspielerin mit dem Eselskopf, das wäre dann die Rahab als Schlummerliedsängerin. Das war jetzt nur ein Witz. Ich will nicht ernsthaft behaupten, hier wäre die Erzählung aus dem Buch Josua dargestellt, aber manche Witze sind wahrer als Madame Seriosity herself. Ob meiner auch so einer ist, wird man dann sehen. Komm Alice, ab in den Kaninchenbau!