Titelschrift

Küstermann




menue-symbol   Jesus  Menschen - 4.1 Frauen - - 4.2 Arme - - 5. Zöllner -

Schriftzug Jesus vor goldenem Kreis

Menschengruppen, denen sich Jesus besonders zuwandte

Jesus und die Armen

Vor seinem Auftreten als Wanderprediger war Jesus vermutlich als umherziehender Bauhandwerker tätig. Wie bei den allermeisten seiner Kollegen war sein Einkommen dürftig. Die meisten seiner Weggefährten stammten ebenfalls aus Schichten, die nicht viel mehr als das Existenzminimum hatten. Die Kranken, die er heilte, waren bis dahin auf's Betteln angewiesen. Der tägliche Existenzkampf war die Normalität, Not und Elend eine dauernd vor Augen stehende Möglichkeit, mit allen daraus folgenden Konflikten. Nach Schätzungen der Historiker war überhaupt nur 1% der Bevölkerung des römischen Reiches wohlhabend oder vermögend. In den Randprovinzen wie im damaligen Judäa und Galiläa war der Prozentsatz eher noch geringer.

Sowohl römische als auch jüdische Schriftsteller erwähnen Hungersnöte, Seuchen, Dürrekatastrophen, Verschuldung von Kleinbauern und Arbeitslosigkeit von Tagelöhnern. Diese alltäglichen Schicksale bilden das Material für die Gleichnisse Jesu mit oft überraschender Pointe.

Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg. 2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen 4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. 5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. 6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? 7  Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. 8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. 9 Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. 10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. 11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. 13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? 14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. 15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.
Evangelium nach Matthäus Kap.20,1-7 nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.).

Nur das Nötigste zum Leben zu haben, war die Normalsituation für den größten Teil der Bevölkerung. Verschuldung war die dauernde Gefahr. Und Schulden wurden notfalls zwangsweise beglichen, indem der Schuldner und/oder seine Angehörigen als Sklaven verkauft wurden. Es wird berichtet, dass zu Beginn des jüdischen Aufstandes im Jahre 66 n.Chr. die Aufständischen zuerst das Stadtarchiv in Jerusalem anzündeten, um damit alle dort verwahrten Schuldverschreibungen zu vernichten. Übertragen wir diese Situation in unsere Zeit: Man stelle sich vor, durch einen Computer-Hack ließen sich alle an Offshore-Finanzplätzen gehorteten Milliarden per irreversibler Zufallsverteilung an alle Armen und Sozialhilfeabhängigen der Welt auszahlen, das ist nur eine Phantasie, gewiss, aber so etwa müssen sich die Befreiungsphantasien für die Aufständischen angefühlt haben.

Gemaelde von Sebastien Bourdon, Roemischer Kalkofen ca.1634-37nChr

Gestalten aus dem Gemälde "Römischer Kalkofen" von Sébastien Bourdon, siebzehntes Jahrhundert

Die historischen Berichte widmen sich meistens nicht direkt der Armutsfrage, sondern nur aus Randnotizen lässt sich die soziale Lage rückschließen, zum Beispiel aus den Kriegsberichten von der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes. Anders als in Jerusalem verschonte der römische Feldherr Vespasian bei der Eroberung der Stadt Tarichea im heidnischen Galiläa die ortsansässigen Bürger, ließ aber rund vierzigtausend Nichtsesshafte (Flüchtlinge, Bettler, Obdachlose, Kriminelle) gefangennehmen. Sie wurden je nach Zustand entweder als Sklaven verkauft oder getötet. Vespasian hielt sie – in realistischer Einschätzung – für einen politischen Unruheherd. Ein paar Jahrzehnte zuvor war Jesus gerade mit solchen Menschen ganz anders umgegangen:

"Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. Freut euch an jenem Tage und tanzt; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan. Aber dagegen: Weh euch Reichen; denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet weinen und klagen. Wehe, wenn jedermann gut über euch redet; denn das Gleiche haben ihre Väter den falschen Propheten getan." Lukas-Evangelium Kap.6, ab Vers 20, nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Die Reden Jesu vom Reich Gottes richten sich gegen die sozialen Verhältnisse im römischen Reich, indem sie eine andere Welt zeigen und behaupten, Gott stünde auf der Seite dieser anderen Welt. In seiner eigenen liebevollen und lebensbejahenden Zuwendung zu den Armen praktiziert Jesus dieses Gottesreich. Die Geschichten von der Speisung tausender von Menschen waren Hoffnungsanzünder für die Vielen, die den Hunger kannten. Anstatt Menschen zu taxieren nach ihrer finanziellen und gesellschaftlichen Macht, verbreitet Jesus in Wort und Tat die ansteckende Botschaft von der Nächstenliebe:

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst" (so oder ähnlich an mehreren Stellen: 5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18, Lukas 10,27).

Auf die eingrenzende Frage: "Wer ist denn mein Nächster?" antwortet er mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Wer war der Nächste für den Ausgeraubten und Verblutenden am Straßenrand? Der Nicht-Nachbar, der Nicht-Verwandte, der Ausländer, der aus Samaria, der ihm die Wunden verband und ihn rettete. Jesus lehrt den Perspektivwechsel und identifiziert sich mit den Hungrigen und Durstigen, den Kranken, den Entblößten, sogar den Gefängnisinsassen:

"... ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Evangelium nach Matthäus Kap.25, Verse 35 bis 40).

Mit erstaunlicher Zuversicht behauptet Jesus, dieser Perspektivwechsel würde sich letztlich durchsetzen, denn er sei die Sache Gottes. Seine Beurteilung was schließlich gültig und wichtig sei im Leben, orientiert Jesus nicht an irgendwelchen einschätzbaren Erfolgsaussichten und an "realen" Machtverhältnissen, sondern an einem unverbrüchlichen Gottvertrauen. Jesus glaubt aus unerklärlichen Gründen, dass die Herrschaft Gottes gewiss bald anbrechen werde oder sogar schon mitten unter den Menschen vorhanden sei. Diese Herrschaft Gottes warte nur darauf erkannt und gelebt zu werden. Seine eigene barmherzige Zuwendung zu den armen und entwürdigten Menschen hält dieser arme und oft entwürdigte Wanderprediger für das selbstverständlich Richtige.