Den Weg der Bilder zu verlassen, geht manchmal mithilfe von Bildern / Teil 8 / Dieser Artikel wurde veröffentlicht am 20.Feb.2021
» Die Bildlücke im Bergland » Landkarte mit den Fundorten der neuen Ikonographie des Bes » Die seltsamen Bilder als Sichtschutz vor der Bildlosigkeit » Die erstaunliche Macht der Exodus-Erzählung » Die fehlende Stimme der Subalternen » Die protosinaitische Schrift » Ein Laut ist ein Zeichen und der Pharao ist überflüssig
Aufregendes geschieht in der Ikonographie des ägyptischen Gottes Bes am Ende der Bronzezeit. Aber es geschieht nicht in Ägypten sondern in Kanaan. Und die neuartigen Bilder von Bes werden nicht von denen gemacht, die ihn kultisch verehren, sondern diese neuartigen Bilder entstehen in einer Kultur, die sich der Bilderlosigkeit zugewandt hat.
Ein Wort "Bes" oder "Besas" gibt es in der Bibel nur mit der Bedeutung "Beute", aber wohl nicht als Name eines Gottes. Und wo in den biblischen Büchern Esra und Nehemia ein ähnliches Wort (in anderer Schreibweise nämlich mit Samech) als Name vorkommt, ist es nur eine Abstammungslinie der Tempeldiener. Bes taucht auch nirgends in den Namen der kritisierten Fremdgötter auf, von denen in der Bibel doch etliche angekreidet werden. Die Bilder vom ägyptischen Bes kommen zwar sehr wohl vor in Israel, aber beim Namen wird er nicht genannt weder positiv noch negativ. Sind seine Bilder so unwichtig, dass er es nicht bis in die Texte schafft? Oder kennen die Israeliten ihn unter anderem Namen? Wie auch immer, Bes ist nicht der Gott Israels. Bes ist nicht der Gott, um den es geht, auch nicht in den Bildern. Nicht als gläubige Bes-Verehrer schnitzen die Israeliten diese Bilder in die Skarabäen, aber sie schnitzen.
Der veränderte Bes erscheint nicht im Kerngebiet des Berglandes von Israel, sondern ringsum in den Gebieten, die etwas entfernter sind von den Städten Jerusalem und Samaria. In den Grenzgebieten Israels zeigt sich Bes in den neuen, aufregenden Verhältnissen. In der Kommunikation Israels mit den umliegenden Kulturen findet der Ikonenwechsel statt.
Landkarte mit den Fundorten der neuen Ikonographie des Bes.
Die Fundorte der aufgeführten Siegel sind blau markiert.
Die Länder-Bezeichnungen (Philistäa etc.) geben nur ungefähre Machtbereiche an.
Im Entstehungszeitraum der Siegel sind genaue Grenzverläufe nicht geklärt.
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Die Kartenbasis
stammt von Eric Gaba in einer
Version von Zunkir,
beide verfügbar auf wikimedia.
Unabhängig von der Bild-Lücke im Bergland gilt im Großen die regionale Verteilung: Konservatives Bildprogramm in Ägypten, ikonographische Umwälzung in Kanaan. Und unabhängig von meinen Interpretationen einzelner Bilder, geht es um die Beobachtung vom erstaunlichen Umbruch in der Ikonographie des Bes.
Um Samaria und Jerusalem herum könnte das Bilderverbot gewirkt haben und zwar besonders auf die Darstellung des Bes. Andere Bilder gab es wohl auch im Kerngebiet Israels, aber Bes scheint etwas Besonderes gewesen zu sein. Die Bildlücke im Bergland zeigt, dass Bes nicht das Zentrum ist, dass aber in seinen neuen Bildern etwas sichtbar wird von den aufregenden Veränderungen.
Die religiöse Umwälzung in Kanaan bringt zwar die neuen Bilder von Bes hervor, aber sie steht nicht mit ganzer Kraft hinter diesen Bildern. Nicht Bes ist der programmatische Gott der neuen Religion, nicht Bes ist der Inhalt der Umwälzung. Die neue Kultur dient nicht dem Bes, aber sie spricht nach außen durch seine Bilder. Die neuen Bilder von Bes sind ein Hilfsmittel, um die neue Religion zu kommunizieren, und sie sind ein Hinweis auf die Geschichte ihrer Entstehung. Bes ist eine Behelfsillustration, eine Chiffre hinter der sich der Schritt in die Bilderlosigkeit vollzieht.
Vom vorigen Artikel steht noch die halbe These im Raum, die neuen Bilder von Bes seien ein Indiz für die Geschichtlichkeit des Exodus. Die andere Hälfte heißt: Israel ist auf dem Weg in die Bilderlosigkeit und benutzt den ägyptischen Bes als Chiffre, als eine Art Behelfsillustration. Hinter den neuen Bildern des Bes steht der Gott, der seine eigene Abbildung verbietet.
Die Juden feiern Passah. In diesem Fest bestimmen und tradieren sie ihre kulturelle Identität. Und die größte der Weltreligionen, das Christentum, feiert ihr wohl heiligstes Ritual als Erinnerung und Aktualisierung des letzten Abendmahles Jesu mit seinen Jüngern beim Passahfest in Jerusalem. Der Auszug aus der Sklaverei steht als zentrales Thema zumindest an diesen beiden Schlüsselstellen der Religionsgeschichte.
Von Jan Assmann wird die erstaunliche Macht der Exodus-Erzählung
so erklärt, dass damit nicht mehr ein Mythos sondern eine als
geschichtlich-gedachte Gründungslegende an die entscheidende Stelle der gesellschaftlichen Identitätsbildung tritt. Die Mythomotorik hat in Israel einen neuen Motor erhalten. Und dieser Motor summt seine neue Melodie schon in der Spätbronzezeit.
Identität ist eine Sache von Gedächtnis und Erinnerung. Ein Individuum kann seine
personale Identität nur ausbilden und aufrechterhalten kraft seines Gedächtnisses.
Ebenso kann eine Gruppe ihre Gruppenidentität und damit ihren Zusammenhalt nur
ausbilden und aufrechterhalten durch ein Gruppengedächtnis. Der Unterschied
zwischen Individuum und Gruppe besteht darin, dass das Gruppengedächtnis keine neuronale Basis hat.
Da sich das kulturelle Gedächtnis nicht biologisch vererbt, muss es kulturell
über Generationen hinweg in Gang gehalten werden. Das ist eine Frage kultureller
Mnemotechnik, d.h. der Speicherung, Reaktivierung und Vermittlung von Sinn. An die Stelle
des individuellen Gehirns tritt in der Gruppe ein Komplex identitätssichernden Wissens,
der in Gestalt symbolischer Formen wie Mythen, Liedern, Tänzen, Sprichwörtern, Gesetzen,
heiligen Texten, Bildern Ornamenten, Malen, Wegen, oder sogar ganzer
Landschaften objektiviert ist.
In schriftlosen Gesellschaften besteht das kulturelle Gedächtnis hauptsächlich in Riten.
Die Überlieferung geschieht durch regelmäßige Wiederholung. Der Ritus soll möglichst
abwandlungsfrei reproduziert werden. Die ritengestützte Zirkulation des kulturellen
Sinnes kann geradezu als "Wiederholungszwang" bezeichnet werden.
Genau dieser Zwang ist es, der die rituelle Kohärenz garantiert und damit
die Identität herstellt. Mit der Verlagerung des kulturellen Gedächtnisses auf die Schrift,
also auf die textuelle Kohärenz, macht sich eine Gesellschaft frei vom rituellen Wiederholungszwang.
Der Begriff des "kulturellen Gedächtnisses" bezieht sich auf die Außendimension
des menschlichen Gedächtnisses. Das Gedächtnis denkt man sich zunächst als ein
reines Innenphänomen, lokalisiert im Gehirn des Individuums, ein Thema der
Gehirnphysiologie, Neurologie und Psychologie, aber nicht der historischen
Kulturwissenschaften. Was dieses Gedächtnis aber inhaltlich aufnimmt, wie es
diese Inhalte organisiert, wie lange es was zu behalten vermag, ist weitest gehend
eine Frage nicht innerer Kapazität und Steuerung, sondern äußerer, d.h. gesellschaftlicher
und kultureller Rahmenbedingungen.
1. Das mimetische Gedächtnis: Handeln durch Nachmachen. Erst spät
kommen schriftliche Handlungsanweisungen ins Spiel, noch später Youtube-Videos.
Die Jahrtausende davor sind Mimesis. Handeln lässt sich nicht komplet verschriftlichen,
sondern entsteht durch "Abgucken".
2. Das Gedächtnis der Dinge: Menschen gestalten mit ihren Vorstellungen von
Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit und Schönheit ihre Umwelt (Kleidung, Mobiliar,
Werkzeug, Behausungen, Straßen, Städte usw.) In alle diese Dinge haben Generationen
in gewisser Weise sich selbst investiert. Die Dinge spiegeln den Menschen wieder,
seine Vergangenheit, seine Vorfahren, seine gesellschaftliche Praxis.
3. Das kommunikative Gedächtnis: Sprache wurde gelernt, von außen übernommen.
Die Strukturen der Muttersprache prägen das Denken und Fühlen. In den Sprachstrukturen
liegen Jahrtausende der Kulturentwicklung.
4. Das kulturelle Gedächtnis: Die Überlieferung des Sinns. Alle drei vorherigen
Bereiche können mehr oder weniger bruchlos in den Raum des kulturellen
Gedächtnisses übergehen. Wenn mimetische Routinen zusätzlich zu ihrer Zweckbedeutung
noch eine Sinnbedeutung bekommen, also den Status "Ritual" annehmen,
gehören sie zum kulturellen Gedächtnis. Dasselbe gilt für Dinge sobald sie
nicht nur einem Zweck dienen, sondern auf einen Sinn verweisen: Symbole, Grabmale,
Ikonen, Idole usw.. In welchem Umfang Ähnliches für den dritten Bereich, Sprache
und Kommunikation gilt und welche Rolle die Schrift dabei spielt, ist das eigentlich Spannende.
In Fortsetzung von Claude Lévi-Strauss' Unterscheidung von "heißen"
(Fortschritt treibenden) und "kalten" (Kontinuität wahrenden) Kulturen
spricht Assmann von "Quietiven" und "Inzentiven" des
Geschichtsbewusstseins und der Erinnerung:
Quietive sind Kulturelemente im Dienste der "kalten" Option.
Ihr Sinn ist es Kontinuität zu erhalten, Veränderungen zu verhindern, im Regelmäßigen,
Unwandelbaren die Bedeutung zu sehen.
Inzentive sind Kulturelemente im Dienste der "heißen" Option. Sie setzen den
Sinn in geschichtliche Umbrüche, in Veränderungen und Umschwünge.
Sinn, Bedeutsamkeit, Erinnerungswürdigkeit liegen im Einmaligen, im Besonderen, im Werden
und Wachsen, oder auch in der Verschlimmerung, im Untergang.
In akephalen Gesellschaften reichen die geschichtlichen Erinnerungen selten über
ein paar Generationen hinaus und verlieren sich dann in eine mythische Vorzeit,
in welcher alle Ereignisse auf der gleichen, unbestimmten Zeitebene vorgestellt werden.
Da gibt es nur die lebendigen Erinnerungen der Zeitgenossen (oral history) im
Zeithorizont von ca. 80 Jahren und daneben die geheiligten Überlieferungen über
die "Ursprünge", die immer im gleichen, diffusen Zeitabstand zur
Gegenwart bleiben. Anders gestaltet sich das kulturelle Gedächtnis bei Völkern,
die ein Häuptlingtum oder andere zentrale Institutionen ausgebildet haben. Da
gibt es dann Stammbäume über z.Bsp. 22 Generationen und diese Genealogien werden
gefeiert und gepflegt und an ihnen werden Rollen und Rechte der
Gesellschaftsmitglieder festgemacht. Herrschaft benutzt Herkunft zu ihrer
Legitimation. Und diese Allianz von Herrschaft und Erinnerung hat nicht nur
eine retrospektive Seite, sondern auch eine prospektive. Die Herrscher wollen
sich Denkmäler setzen, sich in ihren Taten und Monumenten verewigen, oder am
Besten gleich in den Rang der Unsterblichkeit aufsteigen, also sich unabänderlich
im kulturellen Gedächtnis verankern. In diesen offiziellen, herrschaftlichen,
politisch-ideologischen Funktionszusammenhang gehört fast alles, was aus dem
Alten Orient an Geschichtsquellen auf uns gekommen ist. Herrschaft ist ein
Inzentiv für Geschichte, aber Jan Assmann relativiert dieses Inzentiv.
Bei den Ägyptern als dem Volk mit dem wohl längsten Gedächtnis (laut Herodot)
sucht man vergeblich nach epischen Dichtungen über die einzelnen Könige, nach
Erzählungen von ihren einzigartigen Erlebnissen und Eroberungen. Die offiziellen
Quellen des alten Ägypten, die Königslisten und Annalen wollen keine spannenden
Geschichten erzählen, sondern wollen nur beweisen, dass alles schon immer so
war, wie es ist und wie es zu sein hat. Diese staatstragenden Texte erweisen
sich als ein Quietiv der Geschichtsschreibung. Erst weit zurück bei den
Göttern fängt die Geschichte an interessant zu werden, aber da hört sie
auch schon auf, im modernen Sinne Geschichte zu sein sondern ist Mythologie.
"Heiße", nach der Definition von Lévi-Straus, "verinnerlichen
entschlossen das geschichtliche Werden, um es zum Motor ihrer Entwicklung zu machen".
Die frühen Staaten erzeugen nicht nur "Hitze" im Sinne des
herrschaftlichen Interesses an Erinnerung, sondern die so betriebene politische
Organisation von Ungleichheit erzeugt auch "Hitze" im Sinne eines
Veränderungswunsches bei den benachteiligten Bevölkerungsschichten.
Nach Wandel streben naturgemäß (?) die Beherrschten, Unterdrückten,
Unterprivilegierten. Die Linearisierung der Geschichte ist ein Unterschicht-Syndrom.
Das zeigt sich deutlich an ihrer extremsten Form, der Apokalyptik, die sich
schließlich in der gesamten Welt verbreitete als Ideologie revolutionärer
Widerstandsbewegungen. Unterdrückung ist ein Inzentiv für lineares Geschichtsdenken,
aber war sie das schon immer?
Die historische Zeit ist in den Gesellschaften des Altertums nichts anderes als Fortdauer des Gewordenen.
Verinnerlichte, das heißt erinnerte Vergangenheit hat die Funktion das Fundament
der Gesellschaft zu bilden. Solche fundierenden Geschichten nennt Assmann "Mythos",
egal ob es sich dabei um Fiktion oder um Realität handelt. Auch historische Ereignisse
können zum Mythos werden. Diese Einsicht darf aber nicht dazu führen, wichtige Unterschiede
zu nivellieren. Der Begriff "fundierende Geschichte" bezeichnet eine Funktionsstelle der
Gesellschaft. Es kommt darauf an wie sie besetzt ist. Da macht es einen wahrhaft fundamentalen
Unterschied, ob eine fundierende Geschichte in "illo tempore" spielt, von der die fortschreitende
Gegenwart sich nie weiter entfernt und die in Riten immer wieder Gegenwart wird, oder ob die
fundierende Geschichte in die historische Zeit fällt und demnach zur Gegenwart in messbarem
und wachsendem Abstand steht und in Riten nicht vergegenwärtigt, sondern nur erinnert werden
kann. Dass Exodus und Landnahme die fundierende Geschichte des alten Israel bilden, macht
sie noch nicht zu Mythen im Sinne der wiederkehrenden Ereignisse der Götterwelt. Israels
Schritt besteht in der Umbesetzung der Funktionsstelle fundierende Geschichte. Wo die
anderen Kulturen sich auf kosmische Göttergeschichten gründen, setzt Israel einen
geschichtlichen Mythos ein und verinnerlicht dadurch sein geschichtliches Werden;
und man kann nicht treffender als mit Lévi-Strauss fortfahren: "um es zum Motor
seiner Entwicklung zu machen".
Vereinfachte Zusammenfassung des Argumentationsstranges von Jan Assmann
Soziale Identität und kulturelles Gedächtnis
Notizen zu Jan Assmann
Amnesie: Was bleibt von einem Menschen, der sein Gedächtnis verloren hat?
Übernimmt das Internet die Funktion des Gruppengehirns für die Menschheit?
An welchen Gruppenidentitäten nimmst du teil? Mit welchen Gedächtnis-Speicher-Medien?
Welche Texte tragen deine Identität? Was ist dein Narrativ? An welchen Narrativen bist du beteiligt?
Wie wird dein Gedächtnis "von außen" gesteuert? Womit wird es gefüttert?
Vier Bereiche der Außendimension des Gedächtnisses:
"Quietive" und "Inzentive"
Die Allianz von Herrschaft und Gedächtnis
Die Allianz von Herrschaft und Vergessen
Kritisiere "naturgemäß"!
Soweit die Notizen zu Jan Assmann.
Der Ausbruch von Sklavinnen und Sklaven aus dem Herrschaftsbereich des pharaonischen Staates wäre für sich genommen noch nichts Neues. Nur erfahren wir von den anderen Ausbrüchen immer erst aus den Berichten der Pharaonen, wenn sie zum Beispiel eine Strafexpedition in die Oasen starten, um die dorthin entlaufenen Sklaven zurückzuholen. Es sind wohl auch meistens nur Einzelne, die die Flucht durch die Wüste antreten. Und selbst wenn es Gruppen waren, kennen wir sie nicht. Falls sie Gemeinschaften bildeten und Nachkommen hatten, fehlt es an einem kulturellen Gedächtnis zur Weitergabe ihrer Erfahrungen. Die Subalternen kommen normalerweise nicht zu Wort im hegemonialen Diskurs, zumindest bekommen wir sie nicht mit ihrer eigenen Stimme zu hören. Das Neue beim Exodus Israels dürfte in zwei Faktoren liegen: Zum Einen in der Erschaffung eines Ritualsystems, wahrscheinlich war das Passah-Fest dessen Kern. Und zum Andern in der Fähigkeit zur Verschriftlichung. Die Erfindung des Alphabets könnte der Schlüssel sein, der den Subalternen eine Stimme gibt und den Hapiru/Hebräern eine historische Identität. Die Juden feiern Passah und die Juden haben eine Schrift. Beides gehört zur Start-Ausrüstung für einen sinnvollen, das heißt tradierbaren Exodus.
Die protosinaitische Schrift stammt wahrscheinlich von semitischen Wanderarbeitern. Während die ägyptischen Hieroglyphen schon durch die Anzahl der Zeichen schwer und langwierig zu erlernen waren, und auch die Keilschrift sich erst langsam von der Bilderschrift zur Silbenschrift weiterentwickelte, war das Konzept der daraus resultierenden Alphabetschriften eine Kulturrevolution. Mit nur 20 bis 30 Zeichen lässt sich menschliche Sprache abbilden, denn etwa so viele Konsonanten unterscheidet eine Sprache im internen Gebrauch. Erst im Vergleich mit den Aussprache-Nuancen anderer Sprachen ergeben sich sehr viel mehr Einzellaute, aber innerhalb einer Sprache lässt sich der notwendige Zeichenvorrat an Fingern und Zehen abzählen. Die Idee einen Laut abzubilden als ein Zeichen war der Durchbruch, viel wichtiger als die Erfindung des Rades. Damit lässt sich das Schreiben nebenbei erlernen. Es werden keine aufwendigen und hochorganisierten Schreiber-Ausbildungsstätten mehr benötigt, keine Tempelschule mit mächtigen Versorgungs-Background, kein königlicher Beamtenapparat oder sonstige Großorganisation, um eine Schriftkultur zu betreiben.
Die Erfindung der Alphabetschrift hat ein enormes Demokratisierungspotential für die gesamte Kultur- und Kommunikations-Teilhabe. Die gesamte Bevölkerung kann teilnehmen an der Kulturentwicklung. Auch Menschen, die keine große Organisation hinter sich haben, können sich zu Wort melden mit einem Alphabet. Auch eine egalitäre Gemeinschaft kann damit ein kulturelles Gedächtnis aufbauen. Die Unterwürfigkeit und Anpassung an den gesellschaftlichen Apparat ist nicht mehr die Voraussetzung für das nachhaltige, sprich niedergeschriebene Denken und Reden. Kultur braucht keine Hierarchie mehr. Zentrale Organisation ist eher hinderlich für die neue Kultur. Keines Menschen Seele muss mehr zur allesübergreifenden Königlichkeit deformiert werden, um die Gesellschaft zu verbinden. Die Idee "ein Laut ist ein Zeichen" macht den Pharao überflüssig.
Bilderlosigkeit muss nicht als moralinsaures Verbot gedacht werden, sondern könnte auch als ein Antrieb und eine Begeisterung für das neue Schreiben gemeint sein. Die Buchstaben sind mächtiger als die Bilder, so lautet die Erkenntnis, aber sie brauchen deren Geleitschutz bei ihrer Geburt. Kleine Bildchen könnten sinnvoll sein, als Hebammen, als Amulette zum Schutz des neu entstehenden Lebens. Gott sei Dank für die Tonkrüge von Kuntillet Ajrud und für die Siegelamulette in der Levante.
Bes als wandernder Schlangenmagier, Elfenbeinschnitzerei aus Megiddo, ccbysa by Deror Avi, bearbeitet für RoteSchnur.de
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