Jüdische Jugendliche auf der Flucht in Harvich, England, angekommen, Dezember 1938, Foto Bundesarchiv 183-1987-0928-501, cc-by-sa
Im Sommer 1938 erfuhren ehemalige Staatsbeamte, die wegen ihrer jüdischen Abstammung entlassen worden waren, aber noch Kontakt zu ihren früheren Kollegen hatten, dass eine größere Welle von Inhaftierungen für die KZ's geplant war.
Gestapo und Polizei legten mit Hilfe der Finanzämter Listen von vermögenden Juden an, außerdem wurden Rabbiner gezwungen, Namen und Adressen ihrer Gemeindeglieder mitzuteilen.
In den Monaten bis Oktober 1938 wurden die größten deutschen KZs in Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen stark vergößert und ausgebaut. Sie sollten bereit stehen, kurzfristig tausende von neuen Gefangenen aufzunehmen.
Obwohl in Dachau bis dahin keine Juden inhaftiert waren, erhielt die Lagerleitung am 25. Oktober den Befehl, 5.000 Judensterne auf Häftlingskleider zu nähen. Zusätzliche Matratzen und Stroh wurden angeliefert.
Berthold Löwenstein aus Leipzig bekam am 29. Oktober 1938 von einem ehemaligen Richterkollegen die dringende Warnung, er solle Deutschland mit seiner Familie unbedingt vor dem 5. November 1938 verlassen, da bis Mitte November Furchtbares mit den Juden geplant sei. Der Richter hatte seine Information aus dem Wirtschaftsministerium in Berlin.
Die jüdische Gemeinde in München hatte am 8.Juni 1938 den Befehl erhalten, ihre Synagoge mitsamt Gemeindehaus dem Staat abzutreten und innerhalb 24 Stunden zu räumen. Am 9. Juni begannen die Abrissarbeiten. Im August wurde auch die Nürnberger und ab September die Dortmunder Synagoge abgerissen.
Am Spätnachmittag des 7. November gab es in Hessen und Magdeburg die ersten Übergriffe gegen Juden, ihre Wohnungen, Geschäfte, Gemeindehäuser und Synagogen. Manche der gewalttätigen SA-Männer trugen Zivilkleidung, damit ihr Vandalismus als Ausbruch des "Volkszorns" dargestellt werden konnte. Am Abend des 7. November wurden die Synagoge in Kassel, in der Nacht auch jene der umliegenden Orte Zierenberg, Bebra und Sontra verwüstet. Wer diese Anwärmphase in Gang gesetzt hat, ist bei den Historikern umstritten. Sicher ist nur, dass Reichspropagandaminister Goebbels zwei Tage später diese Aktionen als "spontane" Äußerungen des Volkszorns lobte und damit den in München versammelten NSDAP- und SA-Führern den Weg wies.
Zwei Tage nach den Revolverschüssen erlag der deutsche Botschaftsrat im Pariser Krankenhaus seinen Verletzungen. Hitler erhielt diese Nachricht beim Kameradschaftsabend der Parteiführung in München und besprach sich direkt mit Reichspropagandaminister Goebbels. Dann verließ Hitler die Versammlung, fuhr in seine Privatwohnung und ließ in den folgenden Tagen nichts von sich hören. Goebbels machte gegen 22 Uhr den versammelten Partei- und SA-Führern die Nachricht bekannt, hielt dazu eine antisemitischen Hetzrede, verwies dabei auf Kassel und Magdeburg und lobte die dortigen "spontanen" Aktionen, bei denen auch Synagogen in Brand gesetzt worden seien. Goebbels erklärte, dass die Partei nicht als Organisator antijüdischer Aktionen in Erscheinung treten wolle. Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstanden dies als unmissverständliche Aufforderung, die "spontanen" Aktionen des "Volkszorns" zu organisieren. Sie alarmierten gegen 22:30 Uhr telefonisch ihre Untergebenen in den verschiedenen Städten und gaben ihnen Anweisungen. Goebbels ließ von seinem Ministerium aus Telegramme an untergeordnete Behörden und Gestapostellen im Reich senden. Diese wiederum gaben entsprechende Befehle weiter, zum Beispiel mit folgendem Inhalt (an die SA-Stelle "Nordsee"):
„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. […] Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. […] Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: ‚Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum‘.“
Verhaftete jüdische Männer werden abgeführt, Baden-Baden November 1938, Foto Bundesarchiv 183-86686-0008, cc-by-sa
Parallel zum inszenierten Volkszorn wurden alle Leitstellen der Staatspolizei angewiesen sich herauszuhalten, also nicht einzugreifen. Besonders aussagekräftig ist das Blitzfernschreiben von Gestapo-Abteilungschef Heinrich Müller um 23:55 Uhr. Punkt 3 lautete:
„Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20–30.000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.“
Polizei und SS waren demnach eine Stunde nach der SA über die angeordneten Pogrome informiert. Aber nicht mit dem Auftrag die Juden zu schützen, sondern sie sollten die Tumulte nutzen zu der längst geplanten Internierung wohlhabender Juden.
Synagoge in Ludwigsburg brennt in der Reichspogromnacht, 9. November 1938, Foto_Leo-Beck-Institut.jpg, cc-by-sa
Im ganzen Reich brannten die Synagogen. Die Feuerwehr kam, um die umliegenden Häuser der "Arier" zu schützen, aber nicht um die brennenden Gotteshäuser zu retten. Jüdische Familien wurden nachts um drei Uhr, vier Uhr von hasserfüllten SA-Trupps aus den Betten gezerrt und auf die Straße gejagt, ihre Wohnungen verwüstet und das Mobiliar zerschlagen. Etwa dreißigtausend wohlhabende Juden wurden verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen gebracht.
Im Laufe des 10. November tat Minister Goebbels so, als wäre der Staat bemüht, den "Volkszorn" zu besänftigen. Er ließ Rundfunk-Aufrufe senden, "von weiteren Demonstrationen und Vergeltungsaktionen abzusehen". Die Pogrome liefen dennoch den ganzen Tag weiter.
Von den Zuschauer*innen der Ausschreitungen wird teilweise erzählt, dass sie vor Begeisterung johlten, aber auch dass viele dem grausamen Treiben distanziert oder entsetzt zusahen. Die Historiker rätseln, wie die Haltung der Bevölkerung einzuschätzen sei. Jemand sagte: Ganz Deutschland heißt jetzt Braunschweig. Die eine Hälfte ist braun, die andere schweigt.
Von den Verhafteten wurden viele bereits bei der Ankunft in den Konzentrationslagern erschossen. Falls eine Absicht dahinter stand, war es wohl die, Angst und Verzweiflung zu verbreiten, um die Gefangenen gefügig zu machen. Hunderte starben bei Fluchtversuchen oder an der Verweigerung von medizinischer Behandlung in den Lagern. Aussage eines KZ-Arztes: "Für Juden stelle ich nur Totenscheine aus." In Buchenwald fanden nach Angaben der Lagerverwaltung in diesen Monaten 207 Juden den Tod, in Dachau 185. Die Opferzahl von Sachsenhausen ist unbekannt. Tausende der vorläufig Überlebenden trugen schwere körperliche Verletzungen davon – allein im noch bestehenden Jüdischen Krankenhaus Berlin mussten bei den KZ-Rückkehrern 600 erfrorene Gliedmaßen amputiert werden.
Die meisten der überlebenden Inhaftierten waren nach einigen Monaten wieder entlassen worden, aber nur sofern sie sich schriftlich zur "Auswanderung" verpflichtet und ihren Besitz dem Staat übereignet hatten. Deshalb waren also gezielt wohlhabende Juden verhaftet worden.
Der Nazi-Staat hatte 1938 schon finanzielle Probleme und hohe Schulden. Der Wirtschaftsminister Reichsmarschall Göring vereinbarte mit den Versicherungen, bei denen die jüdischen Geschäfte Verträge hatten, dass die Entschädigungen zwar gezahlt werden sollten, aber nicht an die betroffenen Juden, sondern die Versicherungszahlungen wurden vom Staat beschlagnahmt.
Der deutsche Staat forderte von den Juden kollektiv ein zu zahlendes Bußgeld in Höhe von einer Milliarde Reichsmark, als Sühne für "ihre feindselige Haltung dem deutschen Volk gegenüber". Die Opfer erhielten also keinerlei Entschädigung für das ihnen zugefügt Leid, sondern sie sollten zusätzlich auch noch eine Strafe zahlen. Mit einer weiteren Verordnung wurde den Juden auferlegt, das Straßenbild wiederherstellen zu lassen, also die vom 8. bis 10. November entstandenen Schäden zu beseitigen.
Desweiteren wurde die "Arisierung" von Geschäften und Fabriken vorangetrieben. Jüdische Inhaber mussten ihre Geschäfte oder Firmen weit unter dem tatsächlichen Wert an den deutschen Staat verkaufen, der sie dann zu einem realistischeren Preis an "arische" Nachfolge-Eigentümer weiterverkaufte und dabei Gewinn machte. Auch die Veräußerung ihrer Grundstücke wurde den Juden vorgeschrieben. Ihre Wertpapiere mussten sie auf einer Devisenbank hinterlegen und ihre Kunstgegenstände, Edelmetalle oder etwaige Juwelen durften sie nicht mehr frei veräußern.
Einerseits wurden sie also zur Auswanderung angetrieben, andererseits nahm man ihnen jede Möglichkeit, die Auswanderung zu finanzieren. Sogar für ehemals wohlhabende jüdische Familien wurde es zusehends unmöglich, die rettende Reise ins Ausland zu bezahlen.
Ankunft jüdischer Flüchtlinge, London 1938, Foto Bundesarchiv 183-S69279, cc-by-sa
Die mörderische Skrupellosigkeit des deutschen Staates war jetzt allen klar, die sie sehen wollten. Weder auf Recht noch auf Gnade war zu hoffen. Wenigstens die Kinder zu retten, war bei vielen jüdischen Familien die Konsequenz. Eltern setzten Anzeigen in ausländische Zeitungen, mit der Bitte, ihre Kinder zu adoptieren. Improvisierte Hilfsorganistationen bemühten sich um Gruppen-Transporte für jüdische Kinder heraus aus Deutschland und aus dem erweiterten Machtbereich der Nazis.
Es gelang eine pauschale Duldung solcher Transporte von den Nazis zu erhalten, aber unter strengen Auflagen. Jedes Kind durfte nur einen Koffer, eine Tasche und zehn Reichsmark mitnehmen. Spielsachen und Bücher waren verboten, nur eine Fotografie erlaubt. Mitgeführte Wertsachen wurden unterwegs beschlagnahmt. Jedes Kind bekam eine Nummer für das Blockvisum. Um tränenreiche – und damit öffentlichkeitswirksame – Abschiedsszenen zu unterbinden, wurde es den Eltern und Angehörigen verboten, bei der Abfahrt der Kinder den Bahnsteig zu betreten.
In Westeuropa brachten Transporte 1500 jüdische Kinder in die Niederlande, 1000 nach Belgien, 600 nach Frankreich, 300 in die Schweiz und 450 nach Schweden. Am allermeisten Kinder wurden aber nach Großbritanien gerettet. Die britische Regierung lockerte dafür ihre Einreisebestimmungen, und es ging ein Aufruf an die britischen Familien, solche Pflegekinder aufzunehmen. Es durften nun jüdische Kinder bis zum Alter von 17 Jahren einwandern, sofern ein Förderer oder eine Pflegefamilie für sie gefunden wurde.
Jüdische Gemeinden hatten sich verpflichtet, Garantiesummen für die Reise- und Umsiedlungskosten der Kinder in Höhe von 50 Englischen Pfund pro Kind (nach heutigem Wert rund 1500 Euro) zu stellen. Die Kinder sollten im Land verteilt und später mit ihren Familien wieder vereinigt werden und eine neue Heimat im britisch verwalteten Palästina finden. Auch die christlichen Gemeinschaften der Quäker waren sehr engagiert an der Rettung der Kinder beteiligt.
Die Kinder fuhren mit dem Zug von ihren Heimatbahnhöfen über die Niederlande, meist nach Hoek van Holland, und von dort weiter per Schiff zur englischen Hafenstadt Harwich. Der erste Transport kam am 2. Dezember 1938 dort an. Er brachte 196 Kinder aus Berlin. Aber die Anzahl der ankommenden Flüchtlingskinder überstieg schnell die angebotenen Pflegeplätze. Als Auffanglager wurden deshalb Sommerferiencamps umfunktioniert, die aber nur in Leichtbauweise für den Sommerbetrieb errichtet worden waren. Im Dezember und Januar gefror das Wasser in den Krügen. Die Betreuungsteams hatten nur wenige Tage Zeit das Lager zu organisieren und einzurichten, dann kamen auch schon die Kinder.
Diese improvisierten Unterkünfte waren aber ein kleines Problem im Vergleich zum Leid der Kinder, die überwiegend die Umstände ihrer Ausreise nicht verstanden und manchmal sogar glaubten, ihre Familie habe sie verstoßen. Andere Kinder und Jugendliche litten darunter, dass ihnen sehr wohl bewusst war, in welcher Gefahr die zurückgebliebenen Eltern und Geschwister schwebten, und dass sie ihnen nicht helfen konnten. Mit all diesen Problemen mussten sich die Helferteams in den Auffanglagern auseinandersetzen. Dabei bestanden die Betreungsteams zu einem großen Teil selbst aus Flüchtlingen. Sophie Friedländer, Hilde Jarecki, Anna Essinger und Hanna Bergas sind die wohl bekanntesten dieser Betreuerinnen. Bei den Organisatorinnen der Kindertransporte waren Bertha Bracey, Nicholas Winton und die Niederländerin Geertruida Wijsmuller-Meyer die häufig genannten Namen.
Die Kindertransporte endeten mit Beginn des zweiten Weltkrieges. Der letzte bekannte Kindertransport kam mit dem niederländischen Frachter SS Bodegraven, der am 14. Mai 1940 mit 80 Kindern von IJmuiden aus den Kanal überquerte und in Liverpool landete.
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