Titelschrift

Küstermann



menue-symbol  Bibel verstehen
01 Buchstäblich »» 02 Erzähltheorie »» 03 Literarkritik »» 07 Epochen »» 11 Sprechweisen »» 12 Formkritik »» 13 Vinyl »» 14 Hinabgestiegen »» 15 Unterweltreise »» 16 Orte »» 17 Auflistung

Bibel verstehen 03. Methode Literarkritik. cc-by-sa 4.0 int. by: RoteSchnur.de

Die wesentlichen Inhalte dieser Seite in Druckversion

Foto eines Menschen mit verspiegelter Sonnenbrille, im Spiegel der Fotograph

Was sagen Texte über ihren jeweiligen Autor

Die Methode der Literarkritik ist einer der Arbeitsschritte der historisch-kritischen Methode. Sie stellt sich die Fragen: Wer hat den Text verfasst? Wo? Wann? Mit welcher Intention? Für wen? Darin liegt eine Umkehr der normalen Fragerichtung.

Die einfache Fragerichtung bezieht sich auf die inhaltliche Ebene des Textes: Wohin reiten Winnetou und Old Shatterhand? Zu welchem Volk gehört Winnetou? Diese einfache Fragerichtung bleibt innerhalb der Welt der Identifikationsfigur eine Erzählung.

Die niveauvollere Fragerichtung bezieht sich auf die Autoren-Ebenen: Wer hat die Figuren Winnetou und Old Shatterhand erfunden? Zu welcher Zeit lebte der Autor? Was wusste der Autor über "Indianer" und den "Wilden Westen"? Welche Vorstellungen von "Indianern" waren in der Zeit des Autors üblich? Es geht nicht mehr um die Frage: Was sagt der Text über Winnetou und Old Shatterhand, sondern die umgekehrte Fragerichtung heißt: Was sagt der Texte über den Autor / über die Autorin?

Wer hat den Text verfasst? Wo? Wann? Mit welcher Intention? Für wen? Gegen wen?



Beispiel 1

Text: "Manche befürchten, dass der noch amtierende Präsident sich weigern könnte, das Weiße Haus zu verlassen".
Aufgabe 1: Nenne ein Datum oder Ereignis, vor dem dieser Text verfasst worden ist. Fachbegriff: "Terminus ante quem".

Beispiel 2

Text: "Solange jedes Jahr Menschen an der Mauer sterben..."

Aus der Rede eines Politikers im Jahr ............? Wann?

................................................
................................................

Fachbegriffe zur Eingrenzung der Entstehungszeit eines Textes:
Terminus post quem: In diesem Fall der Mauerbau.
Terminus ante quem: In diesem Fall der Fall der Mauer.

Ihr habt nun schon ein bisschen gespürt wie ungewöhnlich es sich anfühlt, wissenschaftlich an einen Text heranzugehen. Normalerweise -- also unwissenschaftlich -- liest ein Mensch eine Geschichte auf der Inhaltsebene und sucht im Inhalt nach einer Identifikationsfigur. Die Gefühle des Lesers / der Leserin schlüpfen in eine Gestalt hinein, die als Inhalt vorkommt. Du identifizierst Dich mit Harry oder mit Hermine. Wenn Deine Identifikationsfigur bedroht wird, hast Du Angst. Wenn Deine Identifikationsfigur den Kampf gewinnt, bekommst Du triumphale Gefühle usw.. Du fühlst und denkst, als würdest Du in der Welt des Text-Inhalts leben. Das ist der normale psychische Vorgang beim Lesen einer Geschichte. Wissenschaftliche Lektüre verlangt, sich diese Identifikation zu verkneifen, sich aus dem Inhalt gefühlsmäßig heraus zu nehmen und stattdessen in distanzierter Position aus dem Inhalt Rückschlüsse auf die Autorenebene zu ziehen.

Inhaltsebene Da befindet sich die Seele der normalen Leserschaft
Autorenebene Dafür interessiert sich die wissenschaftliche Leserschaft

Beispiel 3

Fünftes Buch Mose (Deuteronomium) Kapitel 1:

1 Dies sind die Worte, die Mose zu ganz Israel redete jenseits des Jordans in der Wüste.

Wo? Unterscheide Inhaltsebene und Autorenebene und beschreibe beide (!) „Wos“! (nimm eventuell eine Landkarte zuhilfe)
...................................
...................................
...................................
...................................

Wenn im Text vorkommt "dies redete Mose zum ganzen Volk Israel jenseits des Jordans in der Wüste" , dann heißt die literarkritische Frage nicht: Wo war Mose? Das wäre nur Interesse am Inhalt. Sondern die Frage heißt: Wo wird dieser Text geschrieben? Das ist das Interesse am Autor, also an der Entstehung des Textes. Mose hat das Land Israel nie betreten, er ist vorher gestorben. Der Autor des Textes dagegen schon. Wir wissen weder den Namen des Autors, noch den Standort seines Schreibtisches, auch nicht das Jahrhundert, in dem er lebte. Aber wir wissen: Er (oder sie) schreibt in Israel. Woher wissen wir das?

Die aufschlussreiche Stelle ist: "jenseits des Jordan". Also muss der Autor sich "diesseits" des Jordan befinden, sonst macht das "Jenseits" keinen Sinn. Der Schriftsteller (oder die Schriftstellerin) sitzt in Israel und beschreibt aus der geographischen Perspektive Israels die Vorgänge. Damit muss der Schriftsteller mindestens eine Generation nach Mose gelebt haben, weil Israel erst nach dem Tod des Mose ins Land einzog.

Inhaltsebene Das Geschehen im Text: Jenseits des Jordan
Autorenebene im Rückschluss: Der Autor lebt diesseits des Jordan, im Land Israel

Beispiel 4

Erstes Buch Mose (Genesis) Kapitel 12:
4 Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog. 5 So nahm Abram Sarai, seine Frau, und Lot, seines Bruders Sohn, mit aller ihrer Habe, die sie gewonnen hatten, und die Leute, die sie erworben hatten in Haran, und zogen aus, um ins Land Kanaan zu reisen. Und sie kamen in das Land, 6 und Abram durchzog das Land bis an die Stätte bei Sichem, bis zur Eiche More; es wohnten aber zu der Zeit die Kanaaniter im Lande.

Wann? Unterscheide Inhaltsebene und Autorenebene und beschreibe beide (!) "Wanns"!
...................................
...................................
...................................
...................................

Aus kleinen, oft nebensächlichen Redewendungen wird zurückgeschlossen auf die Autorenebene. Solche Methoden des Analysierens werden in allen historischen Disziplinen der Wissenschaft angewendet, die meisten dieser Methoden wurden bei der historischen Erforschung von Bibeltexten entwickelt. Der Text sagt nicht nur etwas über den Inhalt, sondern um die Ecke gelesen verrät jeder Text etwas über seinen Ursprung.

Bei vielen antiken Texten wissen wir den Autor nicht oder nur sehr unsicher. Die Rückschlüsse sind oft das wichtigste Mittel, um den Text sinnvoll einordnen zu können. Und wenn der Autor besser eingeordnet werden kann, werden auch seine Intentionen verständlicher.

Übung "Hermine"

Text: "Wer ist Hermine?"

Antwort 1: Hermine ist die Mitschülerin von Harry.

Antwort 2: Sie ist viel schlauer als Harry.

Antwort 3: Der Fragesteller scheint die Harald Töpfer Geschichten nicht zu kennen.

Antwort 4: Das ist die geheime Hauptfigur.

Antwort 5: Das ist die, die ganz im Stillen immer das Richtige tut.

Nur eine der fünf Antworten ist literarkritisch gedacht. Welche?

Nicht raten, sondern nachdenken. Du hast nur einen Schuss.

Foto eines Menschen mit verspiegelter Sonnenbrille, im Spiegel der Fotograph, mit Beschriftung: Inhalt und Autor

Beispiel 4

Erstes Buch Mose (Genesis) Kapitel 36:

31 Die Könige aber, die im Lande Edom regiert haben, bevor Israel Könige hatte, sind diese: 32 Bela war König von Edom, ein Sohn Beors, und seine Stadt hieß Dinhaba.

Wann? Unterscheide Inhaltsebene und Autorenebene und beschreibe beide (!) "Wanns"! ...................................
...................................
...................................
...................................

Wenn es in einem Text heißt "als es noch keine Könige gab in Israel", dann schreibt der Autor in einer Zeit, als es schon Könige in Israel gab, oder noch später, als es schon Könige gegeben hatte. Die Entstehung des Textes liegt also nach der Gründung eines Königreiches in Israel. Der Beginn des Königreiches (Saul oder David) ist der Terminus post quem für die Entstehung des Textes, unabhängig vom sonstigen Inhalt des Textes, indem es vielleicht gar nicht um die Könige geht.

Schwieriger ist oft ein Terminus ante quem zu finden, weil das etwas sein müsste, was der Autor offensichtlich noch nicht kennt, also was von ihm aus gesehen in der Zukunft liegt. Und darüber kann er ja schlecht schreiben. Aber wenn er ganz selbstverständlich von verschiedenen Heiligtümern redet, an denen Opfer dargebracht werden, dann wäre die Kultzentralisation in Jerusalem der Zeitpunkt vor dem der Text geschrieben worden sein muss.

Einordung eines Textes im Zeitstrahl

Ibn Esra

Ibn Esra (ein jüdischer Schriftausleger, gestorben 1164) hinterfragt die traditionelle Annahme, die Fünf Bücher Mose (hebräisch: die Tora, griechisch: der Pentateuch) seien von Mose geschrieben worden. Die genannten Bibelstellen sind Teile von Ibn Esras Argumentation, dass diese Bücher nicht von Mose geschrieben wurden. Diese spezielle Problemstellung zur Autorenschaft des Pentateuch war also seit dem Mittelalter bekannt. Die Bezeichnung "Fünf Bücher Mose" darf nicht als Autoren-Angabe missverstanden werden. Der literarische Entstehungsprozess wurde in früheren Kulturen unterschiedlich wahrgenommen. Die Unterscheidung von Inhalts-Ebene und Autoren-Ebene ist eine wissenschaftliche Fragestellung. Darum geht es in der Methode der Literarkritik, diese ist Teil der historisch-kritischen Methode.