Bibel verstehen Zur Verteilung als Textblatt ist dieser Teil des Unterrichts eher ungeeignet. Das muss live dargeboten werden
Foto von Miguel Ferreira. Heiliges Vinyl und Mural monster shaking hands
Stellt dir vor, es wäre Sommer und Montag. Dein Sitznachbar kommt mit großer Verspätung zur Schule Du weißt, dass er übers Wochenende auf dem Festival in Heidelberg war. Jetzt sitzt er da mit verwuscheltem Haar und verträumtem Blick und murmelt dir zu: "Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren in einer lauen Sommernacht". Nein, das sagt er so natürlich nicht, aber fragt bitte Eure Großeltern, ob sie diesen Schlager kennen: "Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren und so weiter ... mein Herz das liegt am Neckarstrand". Ziemlich sicher werdet ihr damit einen Treffer landen und in Opas oder Omas Augen wird genau dieser verträumte Schimmer auftauchen, von dem ich gerade sprach. Vielleicht stimmen die sogar mit ein in die wohlvertraute Melodie. Fast die gesammte Nachkriegsgeneration hat diesen Schlager mitgesummt.
Und jetzt meine Frage an Euch: Wie konnte eine ganze Generation auf so eine offensichtliche Lüge hereinfallen?
Ihr habt genug medizinische Bildung, dass ihr die Lüge entlarven könnt:
Warum kann der Sänger unmöglich sein Herz in Heidelberg verloren haben?
........
Ihr müsst natürlich so tun, als hättet Ihr noch nie etwas von Textgattungen gehört,
könntet also zwischen einer medizinischen Aussage und einem Liebeslied nicht unterscheiden.
Merkt ihr den Zusammenhang zwischen Textgattung und Wahrheit? Beide Textgattungen, Liebeslied oder medizinischer Bericht, können wahre oder falsche Aussagen machen. Eine Liebeserklärung kann wahr oder gelogen sein. Ein medizinischer Bericht kann richtig oder gefälscht sein. Ob aber der einzelne Text wahr ist, kann nur nach Feststellung seiner Gattung untersucht werden, weil jede Gattung einen eigenen Wahrheitsanspruch hat. Die Worte "Ich hab mein Herz verloren" bedeuten in einem Liebeslied etwas anderes als in einer medizinischen Aussage. Also kann nicht am einzelnen Text entschieden werden, ob er wahr ist, sondern erst mit der Gattung wird verstanden, was der Text sagen will. Und erst wenn verstanden ist, was er sagen will, lässt sich prüfen, ob er die Wahrheit sagt. Zuerst muss die Gattung bekannt sein, sonst laufen wir in Missverständnisse. Bei den uns vertrauten Textgattungen funktioniert dieser Zwischenschritt des Verstehens automatisch, aber sobald wir es mit unbekannten Gattungen zu tun bekommen, aus anderen historischen Zeiten oder aus anderen Kulturen, dann muss das bewusst gemacht werden. Wir spielen das durch an einem fiktiven Beispiel, nämlich an der Sekte vom schwarzen Vinyl.
In ferner Zukunft gibt es eine Kultur, die zwar hochentwickelt ist und viele alte Sprachen erforscht und entziffert hat, aber keine Liebeslieder kennt und auch sonst keine Ahnung von Textgattungen hat. In jener fernen Kultur gibt es nun eine Sekte, die den archäologisch ausgegrabenen Relikten von sogenannten Schallplatten aus dem zwanzigsten und zum Teil noch aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, absoluten Wahrheitswert zu spricht. Alles was je in schwarzes Vinyl gepresst wurde, ist unbedingt wahr. So ist die feste Überzeugung dieser Glaubensgemeinschaft.
Nun hat ein archäologisches Team diese Platte ausgegraben: "Ich hab mein Herz verloren". Und damit stehen die Vinyl-Gelehrten vor einem Problem. Sie müssen die medizinisch offensichtlich falsche Aussage des Vinyl-Sängers so interpretieren, dass ihre Wahrheit zur Geltung kommt. Sie netwickeln verschiedene Theorien: War der Sänger schon tot und hat seine wahre Aussage aus dem Jenseits ins Mikrofon gesungen? Oder hat er in weiser Vorraussicht seines bevorstehenden Herzverlustes ein prophetisches Lied gedichtet? Die Lösung brachte dann die archäologische Nachricht, dass es in Heidelberg in jener Zeit eine Universitätsklinik gegeben hatte, an der womöglich auch Organtransplantationen durchgeführt worden waren. Der Vinyl-Gesang stammt also gar nicht vom ursprünglichen Inhaber des besungenen Herzens, sondern wohl eher von einem Organtransporteur, der das Kühlköfferchen mit dem frischen Herzen in eine andere Klinik bringen sollte. Auf dem Weg dorthin hat er das Köfferchen kurz mal abgestellt und ist rauchen gegangen. Und dann war das Köfferchen weg. So gab er nun ganz wahrheitsgemäß zu Protokoll: Ich hab mein Herz in Heidelberg erloren. Das schwarze Vinyl hatte wieder mal die Wahrheit gesagt.
Zu solchen Konstruktionen vermeintlicher Wahrheit kann es kommen, wenn die Gattung des Textes außer Acht gelassen wurde.
Foto von Giorgio Trovato. Profanes Vinyl
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