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Küstermann



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Bibel verstehen 14. Methode Formkritik. Hinabgestiegen

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Methode Formkritik. Hinabgestiegen

"... hinabgestiegen in das Reich des Todes". Was ist das für eine Textgattung? Und aus welchem Text stammt dieses Zitat? Aus dem Glaubensbekenntnis. Glaubensbekenntnisse sind eine eigene Textgattung, aber innerhalb eines Glaubensbekenntisses können auch mehrere andere Gattungen verwendet und zusammengebaut werden. "... gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben,..." Dieser Teil hört sich sehr nach historischem Bericht an. Die Schlussphase eines Menschenlebens wird da berichtet. Pontius Pilatus ist eine historische Figur. Die Kreuzigung als Hinrichtungsart ist auch aus anderen Geschichtsberichten über das Imperium Romanum bekannt. Die Feststellung des Todes und dann die Bestattung Jesu, das sind alles äußere, sichtbare Vorgänge. Die könnten auch völlig unreligiös von irgendeinem Geschichtsschreiber verfasst worden sein und ein historischer Bericht ist auch für moderne Menschen als Textgattung vertraut und verständlich.

Dann aber kommt das "hinabgestiegen". Wenn wir mal so tun, als wären wir immer noch in der selben Textgattung, nämlich in einem historischen Bericht, auf welche Idee könnte man dann kommen zur Überprüfung des Wahrheitsgehaltes?

Die vorherigen Satzteile sprechen von Personen, die längst nicht mehr leben und von Vorgängen, die innerhalb weniger Stunden vorübergingen und nur durch Augenzeugen bestätigt oder bestritten werden könnten, wenn aber jemand begraben wurde, dann könnten Archäologen vielleicht das Grab untersuchen, sofern dessen Ort bekannt ist. Traditionellerweise behauptet das Christentum, die Grabeskirche in Jerusalem sei der des Grabes Jesu. Noch interessanter als das "begraben" wird der Bericht mit dem "... hinabgestiegen in das Reich des Todes". Demnach müsste es doch unter dem Grab Jesu eine Treppe gegeben haben, die ins Totenreich führt. Könnt ihr meiner Verrücktheit folgen?

Wir bräuchten nur eine Expedition zu starten, dort am Treppchen unter der Grabeskirche in Jerusalem, und dann werden wir ja sehen, ob es da hinunter geht zum Totenreich. Wir reißen also in der altehrwürdigen Grabeskirche die Alabasterplatten aus dem Fußboden und suchen nach den Stufen in die Tiefe. Wir nehmen ein Kamerateam mit, auch Wärmebildkameras und was es da sonst noch an Aufzeichnungs- und Übertragungsgeräten gibt. Gut wäre wohl auch ein SWAT-Team mit Pumpguns und schusssicheren Westen, man weiß ja nie was einem da im Totenreich alles begegnet. Sicherheitshalber sollten auch Silberkugeln zur Munition gehören. Vielleicht ist der Höllenhund Kerberos ja einer aus der Gattung der Werwölfe. Und wie wäre es mit ein paar Spezialisten zur Dämonenbekämpfung, Warrior-Nuns und Exorzisten und so weiter. Und dann brechen wir mit dem ganzen Trupp in den Hades ein! Wenn es klappt, haben wir die Wahrheit des christlichen Glaubensbekenntnisses der ganzen Medienwelt bewiesen. Oder? Hoffentlich nimmt jetzt niemand diese Beweismethode ernst. So ein Blödsinn entsteht, wenn Menschen einen Text lesen, ohne nach der Textgattung zu fragen. Oder müsste ich die griechischen Mönche an der Grabeskirche warnen, dass sie noch schärfer auf ihre Alabasterplatten aufpassen müssen?

Textgattung Jenseitsreise

Wer bis hierher die Methode Formkritik und die Frage nach den Textgattungen verstanden hat, wird leicht nachvollziehen können, dass zwischen den Worten "begraben" und "hinabgestiegen" die Textgattung gewechselt hat. Jetzt ist es nicht mehr ein historischer Bericht, sondern wir befinden uns in der Gattung "Jenseitsreise". Für uns moderne Menschen ist das eine befremdliche und seltsame Textgattung, aber für antike Menschen war es eine der normalsten und sehr häufig eingesetzten Formen. Da geht es nicht mehr nur um die äußerlich beobachtbaren Vorgänge des Sterbens, sondern sondern um andere, uns nicht automatisch zugängliche Aussageabsichten. Vielleicht dreht sich die Jenseitsreise um die Frage, wie es sich quasi von innen her anfühlt. Sterben ist wie ein Hinabsteigen in unbekannte Tiefen. Nach dem Sterben eines wichtigen Menschen stellt sich auch die Frage nach dessen Bedeutung über die Grenzen seines individuellen Lebens hinaus. Ist dieser Mensch wichtig für die Welt? Welche Bilanz wird aus dem zuende gegangenen Leben gezogen? Was sind die letztlich gültigen Maßstäbe zur Bewertung eines Lebens? Wie wird der Verstorbene aufgenommen im Reich der früheren Generationen, die vor ihm diese Treppe hinabgestiegen sind? Welche Rolle spielt der Verstorbene für das Weltganze? Außerdem ist Sterben vielleicht auch das ultimative Abenteuer, die größte Reise, die ein Sterblicher je antreten kann.

Aus unserer modernen, sehr dieseitigen Perspektive gesehen, ist es ein ganzes Sammelsurium von Inhalten, die im Modus der Jenseitsreise aufgenommen und erzählt worden sein könnten. Wir müssen uns aber an diese Textgattung erst gewöhnen, um ein Gefühl und einen Verständniszugang dafür zu gewinnen. Im Glaubensbekenntis wird diese Textgattung genauso kurz angespielt, wie davor der historische Bericht, aber sie wegzulassen wäre in der Antike wohl schwer denkbar gewesen. Wenn von einem Verstorbenen behauptet werden soll, er habe weltweite Bedeutung für die ganze Menschheit und für die ganze Weltgeschichte, dann wird das in dieser Form, als Jenseitsreise erzählt. Natürlich ist nichts davon mit Kamera und SWAT-Team nachweisbar. Den Fußboden der Grabeskirche aufzureißen, würde irgendwohin führen aber nicht ins Totenreich.

Jenseitsreisen

Zur weitgefächerten Textgattung Jenseitsreise gehören die ägyptischen Pyramidentexte und Totenbücher ebenso wie mesopotamische Texte über die Göttin Innana und die Geschichte von Orpheus, der mit bezaubernder Musik seine verstorbene Frau aus dem Totenreich zurückholen will. Die Göttliche Komödie von Dante Alighieri ist eines der späteren Werke dieser Gattung. Der Schlussteil des zweiten Artikels im Glaubensbekenntnis wird nur verständlich, wenn man sich diese Textgattung bewusst macht:

hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten,
aufgefahren in den Himmel.
Er sitzt zur Rechten Gottes des allmächtigen Vaters.
Von dort wird er kommen,
zu richten die Lebenden und die Toten.

Gemaelde Botticelli zu Dantes Inferno

Bild: Botticellis Darstellung zu Dantes Inferno, quasi eine Kartographie der Höllenkreise.